Gedanken während einer Umsonstladen-Schicht

Immer mehr Menschen empfinden in ihrem Alltagsleben ein unbestimmtes Unwohlsein. So richtig ausdrücken, wo der Schuh drückt, kann sich kaum jemand. Im Gespräch kommen eher einzelne Bruchstücke von Problemen zur Sprache: Da werden die hohen Preise beklagt für Lebensmittel, Heizung und Strom. Oder für Benzin, auf dass man aber nicht verzichten kann, weil man doch zur Arbeit fahren muss.

Andere äußern sich bekümmert über zunehmenden Druck am Arbeitsplatz. Druck durch immer mehr zu leistende Arbeit und ein immer schlechteres Arbeitsklima, bis hin zum Mobbing. Wieder andere würden liebend gern einen solchen Job haben und gehen montags in Jena dafür auf die Straße, weil sie im Moment von Harz IV „leben“ müssen. Vielleicht wäre „vegetieren“ hier ein treffenderer Begriff. Gelegentlich wird auch Besorgnis über Probleme geäußert, die alle Menschen betreffen, wie die Klimaänderung, die Kriegssituation im nahen und mittleren Osten oder die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich.

Sicher, ein problemloses Leben führt niemand und ob ein Zustand des wunschlos-glücklich-seins wirklich erstrebenswert ist, möchte ich auch ernsthaft bezweifeln. Aber aus der Sicht der Betroffenen ist all den genannten Problemen eines gemeinsam: Es ist kaum eine Lösung zu erkennen. Selbst eine vage Idee, wie eine Lösung, unabhängig von ihrer möglichen Realisierbarkeit, vielleicht aussehen könnte, ist nicht vorhanden. Einige haben vielleicht sogar schon resigniert.

Wieso eigentlich? Warum werden viele, insbesondere der unmittelbar Betroffenen, nicht aktiv? Weshalb wird nicht nach möglichen Auswegen gesucht, sondern geraten bereits die Gedanken zu möglichen Alternativen an scheinbar unüberwindliche Schranken? Viele Fragen. Vielleicht auch mindestens ebenso viele Antworten, die an dieser Stelle keinesfalls alle dargestellt und diskutiert werden können. Einige Überlegungen aus einer kritisch-alternativen Sicht sollen hier jedoch vorgestellt werden. An den Anfang dieser Überlegungen will ich deshalb einige m. E. wichtige Momente unseres gegenwärtigen Lebens stellen: Wie sieht denn eigentlich unser Alltag aus?

Nahezu alles, was wir für unser Leben benötigen, kaufen wir uns. Das beginnt bei den täglichen Nahrungsmitteln, den Kleidungsstücken, Schuhen, geht über Dienstleistungen wie Reparaturen, Energielieferungen, Transportleistungen, über Bauleistungen etwa beim Bau eines Eigenheimes und hört inzwischen bei Gesundheitsleistungen und Beratungsdiensten schon lange nicht mehr auf. Ohne den Kauf dieser Dinge und Dienste wäre es heute für uns unmöglich, unseren Alltag zu gestalten. Wir lernen damit auch von klein auf umzugehen, obwohl die kindliche Spontanreaktion, sich im Laden einfach aus dem Regal zu nehmen, was da so interessantes ist, vielleicht auf andere Zusammenhänge hinweist.

Um über diese für unser Leben unverzichtbaren Dinge und Leistungen verfügen zu können, benötigen wir Geld, denn Nahrungsmittel, Energie und alles andere erhalten wir nicht einfach so, sondern immer nur im Tausch gegen Geld. Und das Geld – woher erhalten wir das? Nun, wir müssen auch etwas verkaufen, etwas über das wir verfügen. Und etwas haben wir üblicherweise alle: Unsere Arbeitskraft. Und wenn wir diese in einem Job an eine Firma oder einen Dienstleister verkaufen, dann erhalten wir dafür das Geld, mit dem wir im Tausch unser Leben gestalten.

Soweit in aller Kürze die, zugegebenermaßen sehr vereinfachte Zustandsbeschreibung unseres heutigen Alltagslebens, die aber imho das Wesentliche erfasst. Und in dieser Logik sind wir von klein auf gefangen: Für alles, was ich haben möchte, muss ich etwas tauschen, idealerweise Geld, denn gegen Geld kann ich alles tauschen. Also: Wer über viel Geld verfügt, kann sich ein bequemes Leben gestalten. Also: Sieh zu, dass Du in Deinem Leben über viel Geld verfügst, mach Karriere, denn mit dem Lottogewinn wird das sowieso nichts. Und außerdem: Sieh mal, wie viele es geschafft haben. Es geht doch. Und wenn Du es nicht schaffst, dann kann es doch nur an Dir liegen. Jeder Mensch wird frei und gleich geboren. Jeder Mensch hat alle Freiheiten und kann sein Leben gestalten wie er will. Nutze also den Tag.

All diese Sprüche sind mir wohl vertraut. Sie dröhnen mir geradezu in den Ohren und ich kann sie schon lange nicht mehr hören. Warum? Nun, ich bezweifle, dass diese Logik dem heutigen Entwicklungsstand der menschlichen Gesellschaft angemessen ist. Ich bezweifle, dass jeder Mensch frei und gleich geboren wird. Ich bezweifle, dass jeder Mensch die gleichen Chancen hat, sein Leben zu gestalten.

Schauen wir uns doch einmal die Entwicklung eines Menschen an: Welchen Einfluss habe ich darauf, wo ich geboren werde, in welche konkreten Lebensumstände? Werde ich in den Slums von Johannesburg geboren, bereits mit dem Aids-Virus infiziert, werde ich in eine Kanadische Industriellenfamilie geboren, in eine ägyptische islamische Großfamilie oder in eine deutsche Familie, wo ich als zweites Kind einer alleinerziehenden Mutter aufwachse, die von Hartz IV lebt? Die Chancen, ein Leben entsprechend den genannten Prinzipien gestalten zu können sind höchst unterschiedlich.

Hinzu kommt, dass ein Mensch die ersten Jahre seines Lebens grundsätzlich keine Möglichkeit hat, sein Leben zu gestalten. Im Gegenteil, er ist unmittelbar und vollständig abhängig von seiner Lebensumgebung. Und er wird diese, seine Lebensumgebung deshalb auch unmissverständlich und kompromisslos bejahen, er muss es tun, bei Strafe seines Untergangs. Damit wird dieses Menschenkind aber auch unmittelbar sozial geprägt. Es nimmt sein familiäres Umfeld nicht nur wahr, es verinnerlicht es geradezu. Dazu gehört die Ausprägung von Wertungen, von Ansichten, von Reaktionen, von Verhaltensweisen genauso, wie kulturell geprägte Lebensgewohnheiten.

Erst mit der Entwicklungsphase der Pubertät lösen sich die unmittelbaren sozialen Beziehungen. Sie lösen sich aber nicht in „Nichts“ auf, sondern werden ersetzt durch neue Sozialbeziehungen, die diesen Menschen sein gesamtes weiteres Leben begleiten. Hier erst hat dieser Mensch die Möglichkeit, diese Sozialbeziehungen in bestimmtem Maße selbst zu gestalten. Er löst sich aus der Familie, wird frei von der unmittelbaren Beziehung, die er sich nicht aussuchen konnte, kann sein eigenes Ich selbst bestimmen. Was aber erwartet ihn stattdessen? Wie sehen heute die sozialen Beziehungen aus, die der junge Mensch „frei“ eingehen kann?

Unmittelbar und partnerschaftlich sind diese gewiss nicht. Denn der junge Mensch muss seine Arbeitskraft auf einem Markt verkaufen. Er muss auf diesem Markt in Konkurrenz zu anderen Menschen treten. Genau zu den Menschen, zu denen er vielleicht gerade ein partnerschaftliches, neues Verhältnis sucht. Er ist gezwungen, gegen andere Menschen zu arbeiten, sich durchzusetzen. Er muss erleben, dass seine Persönlichkeit, sein Verhalten von anderen Menschen danach bewertet wird, wie gut er angepasst ist, wie gut er sich verkaufen, wie gut er sich verbiegen, anderen zu Kreuze kriechen und als Rädchen funktionieren kann.

Er erlebt, dass er sich nahezu allein gegen alle anderen auf dem Markt durchsetzen muss. Er erlebt sich als Staubkorn, ohnmächtig gegenüber einer gigantischen, für ihn undurchschaubaren Maschine, in welcher er ein winziges Rädchen sein soll. Er hat scheinbar nur die Chance entweder zu funktionieren oder unterzugehen.

Viele Menschen verkraften das Zeit ihres Lebens nicht oder nur unter Aufgabe ihrer Persönlichkeit. Sie verbergen ihr eigenes Selbst, passen sich so gut es geht an, schwimmen mit dem Strom um ihr eigenes (Über-)Leben zu sichern. Und dieses Verbiegen, dieses Verdrängen durch scheinbar rationales Handeln gelingt tatsächlich so gut, dass andere Lebensvorstellungen praktisch nicht mehr möglich sind.

Nun könnte jemand dagegen halten, dass es ja in der Vergangenheit, beispielsweise in den Zeiten der Sklaverei und des Feudalismus eigentlich auch nicht besser, ja noch schlimmer war, weil dort ein Mensch zeitlebens keine Möglichkeit hatte, aus den Verhältnissen, in die er hineingeboren wurde, auszubrechen. Die unmittelbare Sozialbeziehung seiner Familie, die seine Kindheit geprägt hat, wurde später durch das persönliche Machtverhältnis zum Sklavenhalter oder Feudalherrn ersetzt, aus welchem er sich faktisch nicht lösen konnte.

Ja, sicher, die Beziehung war vorgegeben, war unlösbar. Sie bot aber gerade dadurch auch einen Halt, eine Sicherheit. Bei allen Problemen, die uns heute auf Grund des historischen Abstandes vermutlich mehr als fremd sind, gab es doch ein gegenseitiges Interesse am „Wohlergehen“ des jeweils anderen, weil jeder auf den anderen angewiesen war. Die Welt war gewiss nicht so reich wie heute, aber von einer stabilen, verlässlichen Beziehung geprägt, auf der jede Gruppe versuchte, sich ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten.

Mit dem Aufkommen des Kapitalismus wurde diese unmittelbare Beziehung ersetzt durch einen anonymen Markt. Das Leben wurde nicht mehr durch unmittelbare Arbeit zum Lebensunterhalt der eigenen sozialen Gruppe bestimmt, sondern durch indirekte, über Lohn vermittelte entfremdete Arbeit. Das Ergebnis dieser Arbeit diente nicht mehr dem Lebensunterhalt, sondern der Erzielung von Gewinn durch Verkauf über einen Markt. Produziert wurden Waren. Produziert mit der Absicht, Gewinn zu realisieren, egal, ob damit Lebensbedürfnisse befriedigt werden oder nicht.

Für die Menschen in dieser Zeit des Übergangs etwa zur Zeit der Renaissance brach mit dieser neuen Lebensnotwendigkeit eine Welt zusammen. Ein Leben in festen gesicherten Verhältnissen mit relativ wenigen Freiheiten wurde abgelöst von einem Leben mit unheimlich vielen Freiheiten aber auch vielen Unsicherheiten. Diese Unsicherheit trifft auf einen Fabrikanten genauso zu, wie auf einen Lohnarbeiter: Verhalten sie sich nicht entsprechend der Logik dieser Warenwirtschaft, geht es ihnen schlecht. Der Fabrikant geht Pleite und der Lohnarbeiter verliert seine Lohnarbeit. Die Menschen werden also weitgehend versuchen, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.

Dazu leisteten auch die Philosophie und Religion der damaligen Zeit bis heute wichtige Beiträge. Sie erklärten, dass irdischer Fleiß und Streben eine Tugend an sich seien. Verzicht, Bescheidenheit, Fleiß und Erfolg sind sichere Zeichen dafür, dass jemand auserwählt sei, die Gnade Gottes zu erreichen (Calvin). Nur wer arbeitet, soll auch essen (Paulus und als Zitat Müntefering). Diese Ansichten werden seit nunmehr vierhundert Jahren propagiert. Sie sind in unseren Köpfen festgeklopft.

Das Problem dabei: Der Befehl „tu was, arbeite …“, der früher direkt vom Feudalherren oder dessen Vertreter kam, und den man immer noch langsam oder mäßig ausführen konnte, kommt nunmehr aus dem eigenen Inneren. Ich selbst bin es, der seine Chance nicht wahrnimmt. Ich bin es, der den Tag nicht nutzt, der sich nicht permanent bemüht. Der vielleicht hinterhältigerweise die Frage nach dem „Wozu?“ stellt. Ich bin schlecht, ich muss mehr tun. Und wer arbeitet schon gegen sich selbst …
Und heute? Schon die Begrifflichkeit „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ ist politisch gewollt verdreht. Wenn ich als Lohnarbeiter, als „Arbeitnehmer“ Arbeit nehme, was gebe ich denn dann in dieser Markt-Tausch-Gesellschaft dafür, wo doch nichts geschenkt ist?

Vierhundert Jahre Verinnerlichung von Kapitalismus haben eben dazu geführt, dass sich viele Menschen ohne Job tatsächlich schuldig fühlen an ihrer Situation. Und wer heute wirklich die Frage nach dem „Wozu?“ und damit diese Gesellschaft in Frage stellt, der wird als Spinner, als Utopist oder als neurotisch oder Verfassungsfeind hingestellt – je nachdem, für wie „gefährlich“ für die Kapitallogik er eingeschätzt wird.
Fromm schreibt dazu: „Man kann den Begriff „normal“ oder „gesund“ auf zweierlei Weise definieren: Erstens kann man vom Standpunkt einer funktionierenden Gesellschaft aus den als normal oder gesund bezeichnen, der imstande ist, die ihm zufallende Rolle in der betreffenden Gesellschaft zu erfüllen. Konkreter ausgedrückt bedeutet das, daß er in der Lage ist, so zu arbeiten, wie es in der betreffenden Gesellschaft erforderlich ist und daß er außerdem an ihrem Fortbestand mitwirken, das heißt, eine Familie gründen kann. Zweitens verstehen wir vom Standpunkt des Individuums aus unter Gesundheit und Normalität ein Optimum an Wachstum und Glück.

Wenn eine bestimmte Gesellschaft so strukturiert wäre, daß sie dem einzelnen eine optimale Möglichkeit zu seinem Glück böte, so würden beide Standpunkte sich decken. In den meisten uns bekannten Gesellschaften – einschließlich unserer eigenen – ist dies jedoch nicht der Fall.“ (E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, DTV 2006, S. 104)

Was bleibt angesichts der geschilderten Situation? Nun, zuerst ist anzuerkennen, dass es genau die kapitalistische Wirtschaftform war, die diesen unermesslichen Reichtum hervorgebracht hat. Genau deshalb hervorgebracht hat, weil Menschen nicht nur zum Zwecke des eigenen Lebensunterhalts gearbeitet haben, sondern weil durch die ausschließliche Orientierung auf Wachstum des Kapitals quasi ein „Turbo“ eingeschaltet wurde. Dieser „Turbo“ droht jedoch zu überdrehen. Das unhinterfragte Wachstum führt zu uns selbst bedrohenden Problemen: Unmittelbar materiellen (Rohstoffe, Klima) wie auch direkt menschlichen (Hunger, Krankheiten, Gewalt, Terror).

Ein erster Schritt zur Überwindung der Probleme ist, über all diese Zusammenhänge nachzudenken, versuchen zu begreifen, warum es so ist und nicht anders. Dieser Text ist ein winziger Baustein dazu. Ein nächster Schritt ist, Ideen zu entwickeln, wie eine menschliche Zukunft aussehen könnte, die „dem einzelnen eine optimale Möglichkeit zum Glück“ (Fromm) bietet oder, um Marx zu zitieren, in der die „freie Entfaltung des Individuums wiederum zur Bedingung der freien Entfaltung aller“ wird. An beiden Schritten wird bereits viel gearbeitet, gibt es viel zu lesen und zu diskutieren, z. B. auf www.keimform.de.

Ein weiterer Schritt ist, soweit sinnvoll möglich, aus dieser Lebensweise bereits jetzt schon auszusteigen. So kann die Warenlogik in einigen Bereichen, beispielsweise durch Nutzung freier Software oder durch Engagement in Umsonstinitiativen auch heute schon ausgebremst werden. Solidarisches Verhalten, gemeinsame Nutzung vorhandener Ressourcen, Beteiligung an creative commons – Ideen und Möglichkeiten gibt es viele. Tun wir es.

Zukunftswerkstatt Jena, Oktober 2008 https://zp-pdl.com/how-to-get-fast-payday-loan-online.php

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