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Aktuelle Entwicklungen
Erich Fromm gibt seinem Buch "Haben oder Sein", welches als Resümee seines Lebenswerkes verstanden werden kann, einen beredten Untertitel: "Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft". Er beschreibt in diesem Buch aus der Sicht des Psychoanalytikers die individuelle geistige Reflexion der kapitalistischen Lebensweise bei den meisten der heute lebenden Menschen. Er bezeichnet die eigentlich menschliche Lebensweise, die gemeinschaftliche Produktion und Konsumtion aller für das Leben erforderlichen Güter als das Sein und die heute dominierende kapitalistische, auf der Warenproduktion und dem umfassenden Markt basierende Lebensweise als das Haben. Fromm belegt, dass die Lebensweise des Habens eine künstliche, eine menschengemachte, nicht natürliche und eigentlich unmenschliche Lebensweise ist, die sich im Kern gegen die menschlichen Lebensinteressen richtet.
Fromm schreibt: "Da wir in einer Gesellschaft leben, die auf den drei Säulen Privateigentum, Profit und Macht ruht, ist unser Urteil äußerst voreingenommen. Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft. Dabei spielt weder eine Rolle, woher das Eigentum stammt, noch ist mit seinem Besitz irgendeine Verpflichtung verbunden. […] Diese Form des Eigentums wird Privateigentum (von lat. privare = berauben) genannt, weil sie andere von dessen Gebrauch und Genuß ausschließt und mich zu seinem Besitzer, seinem einzigen Herrn macht. Diese Form von Eigentum ist angeblich etwas Natürliches und Universales, während sie in Wirklichkeit eher die Ausnahme als die Regel darstellt, wenn wir die gesamte menschliche Geschichte einschließlich der Prähistorie betrachten, insbesondere jene außereuropäischen Kulturen, in welchen die Wirtschaft nicht Vorrang vor allen anderen Lebensbereichen hatte." [E. Fromm, 1976, S. 89]
Er schreibt weiter: "Auch Ideen und Überzeugungen können zu einem Teil des persönlichen Eigentums werden, von dem man sich trennen kann. Selbst Gewohnheiten werden als Besitz erlebt, […] dessen Verlust seine [des Besitzers - R. N.] Sicherheit bedroht. Es mag vielen Lesern als zu negativ und einseitig erscheinen, wenn ich die Existenzweise des Habens als allgegenwärtig darstelle - mit Recht. Ich wollte zunächst die in der Gesellschaft vorherrschende Einstellung beschreiben, um ein so klares Bild wie möglich zu zeichnen. Aber dieses Bild muß durch den Hinweis zurechtgerückt werden, daß in der jungen Generation eine Tendenz vorhanden ist, die im Gegensatz zur Einstellung der Mehrheit steht. Wir können hier Konsumgewohnheiten feststellen, die nicht versteckte Formen des Aneignens und Habens sind, sondern Ausdruck echter Freude an Aktivitäten, die man gerne ausübt, ohne einen ‚dauerhaften' Gegenwert zu erwarten." [a. a. O. S. 95]
Fromm beschreibt das tiefe Verhaftetsein in der Lebensweise des Habens vieler Menschen, zeigt aber auch Tendenzen auf, wie sich Menschen genau daraus lösen. Er beschreibt die formale Logik, die aus kurzschlüssigem Denken heraus die Lebensweise des Habens befördert, vertieft und diese quasi zum Standard, zur Norm macht. Jedoch beschreibt er auch die Möglichkeiten und auch die damit verbundenen Schwierigkeiten, durch tiefgründiges Denken zur Lebensweise des Seins zu gelangen. Fromm sieht den Ausgangspunkt für diesen wünschenswerten und möglichen Übergang vom Haben zum Sein im Verhalten jedes einzelnen Menschen selber.
"Um dieses Gleichgewicht zu schaffen, ist es notwendig, die grundlegende Tatsache ins Bewußtsein zu rufen: daß letztlich die individuelle menschliche Persönlichkeit all die losen Fäden zu einem organisatorischen Ganzen verknüpfen und sich zu sich selbst, der Menschheit und Gesellschaft in Beziehung setzen muß, während sie ihre Gemeinschaft mit dem Universum vertieft und steigert."
[a. a. O., Nachwort S. 249]
Kurz gesagt, unterstellt Fromm aus seiner Sicht jedem menschlichen Individuum die prinzipielle Fähigkeit, die Möglichkeit, seine Lebensweise, die von ihm gelebte Gesellschaftlichkeit zu ändern. Mit dem Begriff "Sein" meint Fromm also ein "selbstbestimmtes Werden". Mit anderen Worten ist es jedem Menschen möglich, durch die Änderung seiner Lebensweise dazu beizutragen, die Gesellschaft zu verändern. Wenngleich dazu eine keineswegs einfache, sondern im Gegenteil schwierige und komplexe Auseinandersetzung mit der von ihm real gelebten Lebensweise, deren historischen Entwicklung, deren Triebkräfte, Zusammenhänge und Wirkungen nötig ist. Das entspricht letztlich der auch von uns vertretenen und oben dargestellten These, dass es jedem Menschen möglich ist, sein Handeln auf die Erweiterung seiner Bedingungsverfügung zu richten, wofür aber "begreifendes Denken" die Voraussetzung ist.
Nun weiß jeder von sich selbst aus eigener Erfahrung, wie schwer es ist, die eigenen Gewohnheiten zu ändern, selbst wenn er weiß, dass die gewohnte Verhaltensweise ihm eigentlich schadet. Ich erinnere nur an solche Prozesse, wie mit dem Rauchen aufzuhören. Ich weiß aber auch, dass Änderungen der Rahmenbedingungen sehr wohl wirksam zu Verhaltensänderungen beitragen können. Denn schließlich bestimmt ja nach Marx das Sein das Bewusstsein. Nicht in einem trivialen mechanischen Sinne, sondern im Sinne einer engen Wechselwirkung, einer gegenseitigen Beeinflussung von Lebensweise und geistiger Reflexion derselben. Damit wäre also zum Einen die Frage zu stellen, ob, und wenn ja, welche Änderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen denn eventuell einen Beitrag leisten könnten, um die nötige Änderung der individuellen Lebensweise zu befördern. Ich meine, dass es sehr wohl solche Rahmenbedingungen gibt. Einige erwachsen unmittelbar aus der kapitalistischen Produktionsweise selbst.
Wir haben, wie oben erläutert, gesehen, dass die Befriedigung der individuellen Lebensbedürfnisse der Menschen in unserer gegenwärtigen Gesellschaft vermittelt über die industrielle Warenproduktion und den Austausch deren Produkte über den Markt erfolgt. Nun wäre das ja dann und nur dann optimal, wenn auf diese Weise genau alle die Dinge produziert und verteilt würden, die von den Menschen am jeweiligen Ort zur jeweiligen Zeit gerade benötigt würden im Sinne des Gebrauchs bzw. des Verbrauchs der Dinge. In diesem Falle würde der erforderliche Aufwand im Verhältnis zum gewünschten Nutzen in einem idealen Verhältnis stehen, also optimal sein. Leider funktioniert der Markt nach eigenen Gesetzen. Es wird keineswegs das produziert, was gebraucht wird, sondern das, was sich verkaufen lässt, sonst wäre es ja keine Warenproduktion. Das Gleichgewicht auf dem Markt wird ausschließlich über das Wertgesetz realisiert. Marx betonte diesbezüglich: "Der Austausch oder Verkauf der Ware zu ihrem Wert ist das Rationelle, das natürliche Gesetz ihres Gleichgewichts; von ihm ausgehend, sind die Abweichungen zu erklären..." [K. Marx, 1964, S. 197]
Das bedeutet aber nicht, dass das Gleichgewicht bezüglich des Wertes auch das Gleichgewicht bezüglich des notwendigen Gebrauchs bzw. Verbrauchs ist. Im Gegenteil: "Nur vermittelst der Entwertung oder Überwertung der Produkte werden die einzelnen Warenproduzenten mit der Nase darauf gestoßen, was und wieviel davon die Gesellschaft braucht oder nicht braucht." [F. Engels, 1972, S. 184]
Im Klartext bedeutet das Verschwendung. Unmittelbare Verschwendung von Material und Ressourcen in der Art, als dass Dinge produziert werden, die nicht verkauft werden können, weil sie nicht (mehr) gebraucht werden wie auch solche, die verkauft werden, obwohl kein Mensch sie eigentlich braucht - ich erinnere mich diesbezüglich noch mit Schrecken an Tamagochis. Auch die berühmte "Ex-und-Hopp"-Mentalität ordnet sich hier ein. Hinzu kommt das in solchen Fällen meist einfach nur penetrant lästige Marketing, um den Menschen diese Dinge doch noch irgendwie aufzuschwatzen.
Verschwendung gibt es aber auch in indirekter, vermittelter Art, weil der Hersteller, wenn er bereits produzierte Dinge nicht mehr verkaufen kann, natürlich weniger von dem eigentlich angestrebten Gewinn realisiert, der ja das letztendliche Ziel jeder kapitalistischen Produktion ist. Nun wissen wir alle aus eigener Erfahrung mit der Marktwirtschaft, dass die erstgenannte Art der Verschwendung die Produzenten faktisch nicht interessiert. Das belegt u. a. die Art, wie durch die Hersteller mit unserer Umwelt bzw. mit den Nerven der dieser lästigen Werbung gnadenlos ausgelieferten Menschen umgegangen wird. Wie ist das aber mit der Gewinnschmälerung durch die Auswirkungen dieses letztgenannten Phänomens?
Hier zeigen sich hochinteressante Entwicklungen. Viele Unternehmen versuchen, die Auswirkungen der dargestellten Effekte des Marktes dadurch zu verringern, dass nicht mehr einfach drauflos produziert wird, was man vermutlich verkaufen kann. Sondern es wird von vornherein versucht, genau das herzustellen, was wirklich vom Käufer gekauft wird. Ein Beispiel dafür sind Autos. Wenn ich heute ein neues Auto kaufen möchte, dann gehe ich zum Händler und es wird in einem "Beratungsgespräch" exakt festgelegt, wie das neue Auto aussehen soll. Mit Farbe und Zubehör und Ausstattung und allem Komfort. Und zum Schluss wird mir dann mitgeteilt, wann ich das Auto abholen kann. Es ist nicht so, dass das Auto schon irgendwo fertig dastünde, nein. Das Auto wird jetzt erst hergestellt. Exakt so, wie es im "Beratungsgespräch" festgelegt wurde. Ich habe den Vorteil, genau das zu erhalten, was ich haben wollte und der Hersteller hat den Vorteil, an dieser Stelle den Markt ein kleines Stückchen überlistet zu haben. Trotzdem ist damit nicht etwa der Markt ausgehebelt, denn als Käufer kann ich mir ja nach wie vor auswählen, zu welchem (Auto-) Händler ich gehe - der Markt-Effekt ist nur vor die eigentliche Produktion verlagert worden.
Voraussetzung für diese Art von Produktion ist jedoch eine informationelle Infrastruktur ungeahnten Ausmaßes. Der Händler einerseits muss genau wissen, was alles möglich ist an Ausstattungsdetails und möglichen Kombinationen derselben. Der Hersteller andererseits muss genau wissen, welche individuelle Konfiguration wann wie gefertigt und geliefert werden muss bis hin zur Bereitstellung der Teile und zur Instruktion der Menschen, die das Auto bauen. Das bedarf eines ausgefeilten Informationsnetzwerkes. Solche Dinge wie just-in-time-Produktion um den Aufwand für ein Lager zu sparen, lieferanten- und unternehmensübergreifende Geschäftsprozesse, sog. Supply-Chain-Management, sind Tendenzen, die Produktion so anzupassen, dass genau das hergestellt wird, was garantiert verkauft werden kann, genau genommen, was bereits verkauft ist, wenn es hergestellt wird. Zweck dieser Verfahrensweise ist es, Kosten für die Produktion nicht absetzbarer Waren zu vermeiden um damit ein Produkt auf dem Markt billiger anbieten zu können als die Konkurrenz und trotzdem noch Profit zu realisieren.
Die Vernetzung von Informationen als Voraussetzung dafür, diese neuen Produktionsstrukturen nutzen zu können, steht aber allen Herstellern, und zwar weltweit zur Verfügung. Die Konkurrenz wird also diese Möglichkeiten für sich genauso nutzen. Damit entwickelt sich ein sich selbst verstärkender Prozess: Der Konkurrenzdruck führt zu weiterer, umfassenderer Vernetzung. (W. Göhring, 2001)
Keimformen
Die Netz-Infrastruktur steht aber nicht nur den Unternehmen zur Verfügung. Zumindest Teile davon sind, teilweise sogar kostenlos, für viele Menschen privat verfügbar. Das wird ausgiebig genutzt, durchaus gegen die Interessen der Industrie. Zwei Beispiele seien dafür genannt: Musik und Software. Musik wurde, mit vorzüglichen Renditen, in der Vergangenheit von einer Unterhaltungsindustrie vermarktet. Das begann mit dem Setzen der Musiktrends, ging über eine Konzert-Industrie bis hin zum Betreiben von Platten-Labels, die wiederum über ein restriktives Urheberrecht dafür sorgten, dass nur sie bestimmte Künstler vermarkten durften. Ein einträgliches Geschäft. Bis bei privaten PCs die Ausstattung mit einem CD- oder DVD-Brenner und ein Internetzugang mit Flatrate zum Standard wurden. Da wurden aktuelle Musiktitel per Internet auf den eigenen PC geladen und auf CD gebrannt, zum Pauschalpreis. Der Gewinn der Unterhaltungsgiganten schmolz dahin.
Wie ist das heute? - Nun, auf Betreiben der Unterhaltungsindustrie wurden technische Verfahren entwickelt (Digital Rights Management - DRM), die es gestatten, einzelne Musiktitel online zu verkaufen und nur eine begrenzte Anzahl von Kopiervorgängen damit vorzunehmen. Gleichzeitig sind diese Titel nur auf bestimmten Geräten abspielbar - Apple, Microsoft und Sony heben eigene Systeme. Damit wird gleich noch ein Geschäft gemacht. Gut gekontert, möchte man meinen. Doch Vorsicht, so einfach ist es nicht.
Es hat sich seit einiger Zeit etwas Neues herausgebildet, was heute bereits den gleichen Status wie den eines der klassischen Labels hat: eine Independent-Szene, also eine unabhängige Musikszene, kurz Indie genannt. Das sind Musikgruppen, die mit eigenen Titeln experimentieren, diese einfach online stellen und sich freuen, wenn diese Musik heruntergeladen und gehört wird. Indie muss nicht teuer vermarktet werden, es verbreitet sich von alleine. Ziel dieser Musiker ist es auch nicht, dass alle Welt ihre Musik hört, diese ist bewusst gegen den Mainstream gerichtet. Oft gibt es nur eine kleine Szene - die allerdings global verteilt. Für ein Plattenlabel nicht praktizierbar, weil es sich nie "rechnen" würde.
Inzwischen gibt es das nicht nur für Musik, sondern auch für Videokunst: Die Website YouTube (auf deutsch etwa "Deine Glotze") lebt davon, dass jeder sein Video dort veröffentlichen kann. Mit Stand Oktober 2006 wurden täglich etwa 65.000 Videoclips hochgeladen und etwa 100 Mio. Clips täglich angesehen. Diese Popularität ist letztlich aus der großen Community (Nutzergemeinschaft) erklärbar. Sicher sind viele der veröffentlichten Videoclips letztlich trivial, aber es hat sich dort auch eine eigene Kultur, unabhängig vom kommerziellen Kulturmarkt und eigentlich sogar gegen diesen entwickelt. Diese Entwicklung hat sogar bereits einen eigenen Namen: Freie Kultur. Sie entwickelt sich unabhängig und neben der kommerziellen Kultur und kann in Zukunft durchaus eigene Maßstäbe setzen. Was geschieht dann mit der kommerziellen Kultur, wenn niemand sie kauft, weil bessere Angebote kostenlos verfügbar sind?
Die erwähnte, im Prinzip kostenlos verfügbare Netzinfrastruktur ist die Grundlage für ein weiteres Phänomen, die freie Software. Der Begriff, der für freie Software quasi synonym verwendet wird, ist Linux, ein freies Betriebssystem. Frei bedeutet hier, dass es unentgeltlich genutzt werden darf und dass es jederzeit unter der Bedingung weiterentwickelt werden darf, dass das Entwicklungsergebnis ebenfalls frei verfügbar bleiben muss. Auf dieser Basis hat sich bisher nicht nur ein Betriebssystem für Insider entwickelt, sondern ein riesiger Komplex von Software für alle Anwendungsbereiche. Aus meiner Sicht ist es heute bereits möglich, einen allen gängigen Anforderungen genügenden Heim- oder Büro-PC ausschließlich mit freier Software zu betreiben. Selbst bei der Herstellung realer materieller Güter deuten sich mit den Verfahren des "rapid manufacturing" Lösungen an, die eine marktunabhängige Produktion von Gebrauchsgütern ermöglichen. Weitere Erläuterungen dazu sind beispielsweise auf der website der ZW Jena zu finden (www.zw-jena.de)
Eine weitere, sich bereits seit einiger Zeit vollziehende Entwicklung, welche eine Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darstellt, sind die aus der veränderten Gestaltung der Produktionsabläufe resultierenden Anforderungen an die Menschen, die diese Abläufe umsetzen. Die Industriebetriebe vor etwa hundert Jahren waren von Fließbändern geprägt. Gefragt waren Menschen, die über viele Stunden hinweg immer die gleichen Handgriffe verrichtet haben. Diese Menschen benötigten keine umfassende Bildung. Für sie reichte es, über ein Minimum an Allgemeinbildung zu verfügen, der Rest wurde "angelernt".
Diese Tätigkeiten gibt es heute immer weniger, weil diese Arbeiten inzwischen von Maschinen vollautomatisch verrichtet werden. In der Konsequenz gibt es einerseits immer weniger Menschen im Produktionsprozess, an die aber andrerseits völlig neue Anforderungen gestellt werden: Sie müssen kreativ sein, mitdenken, dürfen keinesfalls "Dienst nach Vorschrift" verrichten, müssen teamfähig sein, kommunikativ, konsensfähig und Konfliktmanagement beherrschen… - Jeder kennt die einschlägigen Stellenanzeigen. Diese Menschen benötigen eine umfassende Allgemeinbildung, viele Erfahrungen und Spezialkenntnisse. Das sind aber auch genau die Rahmenbedingungen, die eine notwendige Voraussetzung für das oben bereits genannte "begreifende Denken" sind. Wer diesen Arbeitsstil pflegt, wird ihn nicht am Werktor ablegen oder am Schreibtisch zurücklassen, sondern wird auch andere Prozesse mit diesem Wissen analysieren und die erworbenen Fähigkeiten auch in anderen Bereichen seines Lebens einbringen. Leider ist das nur eine notwendige und keine hinreichende Voraussetzung.
Es lassen sich bei weiterer Betrachtung sicher weitere Phänomene finden, die in den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen bereits als Keimformen einer möglichen zukünftigen Gesellschaft interpretierbar sind. Nun bedeutet das Vorhandensein von Keimformen einer Wirtschaft, die ohne einen klassischen Markt funktioniert keineswegs, dass wir nunmehr in freudiger Erwartung der Dinge harren können, die da freundlich auf uns zukommen. Im Gegenteil. Die Frage ist zu stellen, ob nicht die heute bereits für alle spürbaren destruktiven Kräfte dominieren werden. Wird die gegenwärtige globale Wirtschaft in ihrem Gewinnstreben noch eine bewohnbare Erde für unsere Kinder und Enkel übrig lassen? Werden infolge nahezu ausschließlich profitorientierter Forschung vielleicht heute Dinge entwickelt, die morgen bisher noch unbekannte Krankheiten oder andere nicht mehr umkehrbare Entwicklungen auslösen, die schlimmstenfalls zum Aussterben der Menschheit führen? Entwickelt sich aus einem krankhaften Machstreben einiger Staaten eine schrankenlose und umfassende Überwachung, gegen die die Visionen George Orwells nur eine schwache Vorahnung dessen sind, was heute bereits technisch machbar ist?
Auf den Einzelnen kommt es an
Die Zukunft ist offen. Es kann sich aus der heutigen Gesellschaft ein zentral organisierter technokratischer Faschismus oder eine menschenleere Wüstenei genauso entwickeln wie eine sich dezentral organisierende freie Assoziation von Menschen. Einen Umriss einer lebenswerten Welt, in der die individuelle Selbstentfaltung zur Quelle und zum Zweck auch des wirtschaftlichen Lebens wird, haben wir z. B. im Konzept "Selbstentfaltungs-Gesellschaft" erarbeitet." [Schlemm 2005]
Es wird nicht reichen, zuzuschauen und zu hoffen. Insbesondere muss sich unsere Lebensweise ändern. Ändern von einer Lebensweise des Gegeneinanders zu einer Lebensweise des Miteinanders oder, um die Worte E. Fromms aufzugreifen, von einer Lebensweise des Habens zu einer Lebensweise des selbstbestimmten Werdens. Dies ist keine abstrakte Forderung, kein allgemeiner Appell an Alle. Sondern so, wie das Sein das Bewusstsein bestimmt, wirkt auch das Bewusstsein auf das Sein zurück. Und Bewusstsein ist zuallererst die Sache jedes einzelnen Menschen selbst.
Deshalb ist es m. E. zuerst erforderlich, dass jeder Einzelne beginnt, seine eigene Lebensweise, seinen Alltag mit kritischer Distanz wahrzunehmen, er beginnt, seinen Alltag zu hinterfragen. Es gibt viele Möglichkeiten, um den Ausstieg aus den gewohnten Alltagsbahnen zu beginnen. Ich versuche für mich, wo immer möglich, mein Leben zu entschleunigen. Ich verzichte weitgehend auf ein Handy, bin eben einfach nicht erreichbar. Ich nehme auch, wo immer möglich das Fahrrad für Wege in der Stadt. Ich versuche, das Rennen auf das nächste Schnäppchen weitgehend zu boykottieren, versuche Werbung soweit es geht auszublenden, wenn irgend möglich keine entsprechenden Fernseh- bzw. Radiosender zu sehen bzw. zu hören.
Das mag trivial erscheinen, aber es zeigt Wirkung auf die Dauer. Ich stelle fest, dass ich bei bestimmten Themen nicht mehr mitreden kann. Ich stelle aber auch fest, dass es so viele schöne, anspruchsvolle Dinge gibt, die ich nun ohne den ständigen Hintergrundtakt oberflächlicher Anmache viel besser wahrnehme, geradezu genieße. Ich fühle mich einfach wohler. Ein weiterer Schritt, der sich irgendwann quasi von selbst ergibt, ist, sich mit Gleichgesinnten zusammen zu finden und Teile seines Alltags gemeinsam zu gestalten.
Unsere Zukunftswerkstatt ist eine solche Gemeinschaft Gleichgesinnter, die ich keinesfalls missen möchte. Und wer sich dann am Ende in Umsonst-Projekten oder bei der Entwicklung freier Software zu engagieren beginnt, der steckt fast mitten drin im neuen Sein und verstärkt die Entwicklung der oben beschriebenen Keime einer alternativen Ökonomie. Mit diesen Dingen kann und muss jeder bei sich selbst beginnen. Beginnen wollen, wohlgemerkt. Zwingen kann ihn dazu niemand und ich wäre, vor allem auf Grund der von mir in der DDR gemachten Erfahrungen wahrscheinlich der Letzte, der jemand zur Änderung seiner Lebensweise zwingen würde.
Es gibt jedoch auch Hoffnungen. Eine besteht für mich darin, dass ich immer wieder Dinge entdecke, die heute fast in Vergessenheit geraten sind, die mir aber wieder Kraft geben, weil ich dabei feststelle, dass es viele Menschen gibt, die ähnliche Ansichten haben. Zwei Beispiele möchte ich hier zum Abschluss anführen. Das erste ist eine Geschichte von Heinrich Böll (1917 - 1985). Er schrieb diese Erzählung als Vorlage für eine Sendung des Norddeutschen Rundfunks zum "Tag der Arbeit" am 1. Mai 1963 in welcher sie vorgelesen werden sollte.