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Alltagsleben heute
Am 8. April 2006 sendete Deutschlandradio Kultur ein Feature unter dem Thema "Eine andere Welt ist möglich". Auf der Website des Senders wurde dieser Beitrag mit folgenden Worten angekündigt:
"In neoliberalen Zeiten scheinen kollektive Träume von einer anderen Gesellschaft keinen Platz mehr zu haben. Ist uns die Fähigkeit abhanden gekommen, "das Ganze sich vorzustellen als etwas, was völlig anders sein könnte?" (Adorno). Bleibt am Ende nur "die kleine Utopie als Pausensnack"? Oder ist "das Prinzip Hoffnung, der Traum von einer schöneren Welt, ein ewiger Antrieb menschlichen Handelns?" (Bloch)
Die dort aufgeworfene Frage erscheint auch mir außerordentlich aktuell. Auch ich stelle immer wieder fest, dass sich kaum jemand mit Alternativen zu seinem jetzigen Lebensumfeld auseinandersetzt, auch wenn diese Lebensumstände geprägt werden durch Hartz IV, durch Druck vom Arbeits- und Sozialamt, durch viele kleine, aufreibende, zum Teil halblegale Billigjobs, durch Perspektivlosigkeit. Ein Gespräch mit Betroffenen zeigt, dass viele sich irgendwie mit ihrer Situation arrangiert haben, etliche auch resignieren und nur wenige sich fragen, ob denn das alles wirklich so sein muss… Scheinbar hat das mediale Trommelfeuer unter dem Motto "There Is No Alternative" [es gibt keine Alternative] erfolgreich seine Wirkung entfalten können. Der englische Ausdruck wird oft verwendet, weil er sich mit den Buchstaben TINA abkürzen lässt und unter diesem Kürzel weltweit verbreitet ist.
In Frankreich gehen Studenten auf die Straße, um ihren Protest lautstark und nachdrücklich zu zeigen und erreichen auch ihre Ziele. Zumindest wurde das Gesetz, gegen das sich der Protest richtete, zurückgenommen. Ein analoges Gesetz geht in Deutschland von der Öffentlichkeit nahezu unbeachtet durch die zuständigen politischen Gremien…
Auf der Jenaer Montagsdemo gegen Sozialabbau, die bereits seit mehr als einem Jahr jeden Montag durchgeführt wird, höre ich immer die gleichen Forderungen: Mehr Arbeitsplätze, weniger Sozialabbau, weg mit Hartz IV. Ansonsten versuchen sich die Rednerinnen und Redner gegenseitig zu motivieren und Mut zuzusprechen. Aber - es wird nie wieder die "klassischen" Arbeitsplätze für alle Menschen geben, gleich gar nicht solche, die von den Arbeitsbedingungen her erträglich und vom Lohn her attraktiv sind. Natürlich ist es berechtigt und notwendig, gegen die Verschlechterung der sozialen Lage zu protestieren - aber ohne Gedanken zu einer grundlegenden Veränderung der Lebensverhältnisse bleiben diese Proteste zahnlos. Warum sehen diese Menschen das nicht? Oder ist das nur das Pfeifen im dunklen Keller - nach dem Motto, ich habe Angst und ich weiß nicht, ob da etwas lauert.
Dass die Frage mit den Arbeitsplätzen langsam Ernst wird, habe ich durch Zufall in einem ganz konkreten Fall unmittelbar erleben können: Ende März 2006 gestaltete das Porzellanwerk Kahla einen "Tag der offenen Tür" im Rahmen der Kampagne "Deutschland - Land der Ideen". Ich erfuhr zufällig davon und schaute mir den Betrieb auch an. Aus früheren Besichtigungen dieses Betriebes (noch zu DDR-Zeiten), wusste ich, dass Porzellanherstellung mit viel Handarbeit verbunden ist. Insbesondere ist es bei Tassen technologisch notwendig, den Tassenkörper und den Henkel getrennt zu formen und erst danach den Henkel anzukleben. Auch feine Entgratungsarbeiten an gegossenen Rohlingen sind weitgehend Handarbeit.
Zu Beginn des Rundganges konnte ich feststellen, dass auch heute vieles noch in dieser mir von früher her bekannten Art ablief. Erst später beim Rundgang sah ich Industrieroboter im Einsatz, die, zugegeben bei einfacheren Formen, dieses Entgraten und Glätten mit einer Geschwindigkeit und Präzision und gleichzeitig mit einem Feingefühl durchführten, die mich beeindruckten.
Die Bewegungsabläufe des Roboters hatten etwas von der Ästhetik eines Balletttänzers. Lange wird es wohl die Arbeitsplätze, die am Beginn des Rundgangs zu sehen waren nicht mehr geben… Und dann kam für mich die Überraschung: Eine - scheinbar ganz neue - Maschine, die offensichtlich noch nicht in die Maschinenstraße eingebunden war. Der Ingenieur stand daneben und beobachtete die Abläufe.
Diese Maschine stieß nach einem Arbeitstakt Tassenrohlinge aus. Komplett. Mit Henkel. Das war mir neu. Ich ging auf den Ingenieur zu und fragte ihn, ob das jetzt machbar sei, eine Tasse mit Henkel in einem Schritt herzustellen. Er bejahte mir die Frage. Ich fragte weiter: Wann ist es soweit, dass ein Designer am Rechner ein Modell einer Tasse entwirft und diese Tasse dann, ohne dass ein Mensch diese berührt, hergestellt wird? Er antwortete, es sei bereits heute soweit.
Ich fragte weiter, ob denn diese Technik auch im Porzellanwerk Kahla zum Einsatz kommen würde und wenn ja, wie lange es denn seiner Meinung nach etwa dauern werde, bis das Porzellanwerk Kahla im Wesentlichen ohne Produktionsarbeiter auskommen wird. Seiner Meinung nach, schätze er, sei das etwa in 10 Jahren soweit.
Tja, fragte ich weiter, wo soll denn das hinführen: Das Porzellanwerk Kahla stellt dann nahezu vollautomatisch Porzellan her mit dem Ziel, dieses zu verkaufen. Die Menschen jedoch, die von ihrem Einkommen das Porzellan kaufen könnten, werden entlassen und erhalten damit keinen Lohn mehr. Wer soll dann das Porzellan kaufen? - Maschinen brauchen kein Geschirr…
Die Antwort des Ingenieurs: "… lieber nicht drüber nachdenken …"
Diese Haltung, lieber nicht darüber nachzudenken, scheint mir heute bei sehr vielen Menschen verbreitet, ich möchte fast sagen, charakteristisch für die übergroße Mehrheit der mir bekannten Menschen zu sein. Warum? Wo doch die Zuspitzung der Probleme fast schon fühlbar ist. Warum verhalten sich viele Menschen wie der sprichwörtliche Strauß und stecken ihren Kopf in den Sand, wo doch eigentlich der Spruch ‚Wer heute den Kopf in den Sand steckt, dem knirscht es morgen zwischen den Zähnen' bekannt dein dürfte.
Jeder Mensch verhält sich subjektiv funktional
In der Zukunftswerkstatt Jena haben wir uns in der Vergangenheit ähnlichen Fragestellungen zugewendet. In diesem Zusammenhang haben wir uns mit der von K. Holzkamp erarbeiteten "Grundlegung der Psychologie" befasst und in der Folge für uns die Frage beantwortet, was denn den Menschen als Wesen eigentlich charakterisiert. Die Ergebnisse unserer Diskussion sind beispielsweise in Annettes Philosophenstübchen [Schlemm: 2001 2005a] genau nachzulesen. Einige Kernaussagen, die im Ergebnis unserer Diskussionen entstanden sind, sind im Folgenden als Thesen dargestellt.
Erste These:
Jeder Mensch ist (natürlich) gesellschaftlich
Gesellschaft in diesem Sinne ist mehr als die Summe der Individuen. Menschliche Individuen tragen die Gesellschaftlichkeit stets in sich, bereits mit der Geburt. Ein Mensch allein kann demnach nie existieren, seine Existenz ist immer an eine Gesellschaft gebunden, die jeweils wiederum von Menschen "gemacht" ist. So gehört zur Existenzsicherung des Einzelnen nicht nur die Erhaltung des eigenen (biologischen) Organismus und die Fortpflanzung, sondern auch die kooperative Schaffung verallgemeinerter Lebensbedingungen als Voraussetzung für eine vorsorgende Existenzerhaltung des Einzelnen.
Zweite These:
Ein Mensch hat immer Handlungsalternativen, er kann sich bewusst gegenüber den Handlungsmöglichkeiten verhalten.
Diese zweite These ergibt sich sozusagen aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen. Ein Tier muss zwingend die Bedeutung seiner Umweltgegebenheiten richtig erfassen und sich dazu entsprechend verhalten, wenn es überleben will. So muss es eben Beute als solche erkennen und entsprechend handeln können. Kann ein Tier das nicht, überlebt es nicht. Bei Menschen hingegen ist das nicht so. Das menschliche Individuum überlebt auch, wenn es sich anders entscheidet und nicht zur unmittelbaren Reproduktion beiträgt. Es hat "immer auch die ‚Alternative', nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber ‚frei'." [Holzkamp 1985:236]
Dritte These:
Jeder Mensch verhält sich subjektiv funktional
Jeder einzelne Mensch wird in historische Gegebenheiten und gesellschaftliche Strukturen mit ihren jeweils spezifischen Eigengesetzlichkeiten hineingeboren. Seine Menschlichkeit zeigt sich darin, dass er diesen Bedingungen nicht nur "blind folgt", sondern sich zu ihnen bewusst ins Verhältnis setzt. Dabei stellt auch ein "Nicht-drüber-Nachdenken" oder ein "Augen-zu-und-durch" eine freie Wahl des Individuums dar - es könnte sich ja auch anders verhalten. Die Begründungen und Motive für das jeweils individuelle "Bewusste Verhalten zur Welt" entstehen jedoch zuallererst subjektiv und lassen sich nicht ausschließlich durch die jeweiligen Bedingungen erklären. Freies Handeln ist somit nicht durch äußere Bedingungen festgelegt - aber auch nicht völlig losgelöst von ihnen. Die Beweggründe für das Handeln sind jedoch immer nur subjektiv einsichtig bzw. nachvollziehbar und niemals "von außen" beobachtbar oder gar verallgemeinerbar.
Vierte These:
Es sind immer zwei Richtungen der Handlungsfähigkeit vorhanden
"Jedes Individuum, solange es als Mensch am Leben ist, hat [...] angesichts jeder aktuellen Einschränkung/Bedrohung immer in irgendeinem Grad die Freiheit, seine Bedingungsverfügung zu erweitern oder darauf zu verzichten." [Holzkamp 1985:370]
Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die menschliche Gesellschaft nichts Naturgegebenes oder Gottgegebenes ist, sondern gerade etwas vom Menschen selbst gemachtes. Der Mensch wird also seine Handlungsfähigkeiten in zweierlei Richtungen hin wirken lassen können: Zum einen restriktiv, nach innen gerichtet, die gesellschaftlichen Bedingungen bewahrend, sich also in den Verhältnissen einrichtend oder zum anderen konstruktiv, verallgemeinernd, auf eine Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet. Er verweigert in diesem Fall also ein "sich Einrichten" in den Verhältnissen. Voraussetzung für letzteres ist jedoch, dass er die Verhältnisse als etwas nicht von außen (objektiv) vorgegebenes, sondern als etwas menschengemachtes, veränderbares, erkennt. Dazu ist es jedoch nötig, das "deutende (formale) Denken", das Denken lediglich in vorgegebenen Schemata, zu überwinden.
Zusammenfassend kann ich an dieser Stelle also feststellen, dass es einem Menschen durchaus möglich ist, sich so zu entscheiden, dass sich sein Handeln auf die Überwindung der ihn einschränkenden Bedingungen richtet. Jedoch - auch, wenn er das gerade nicht tut, so ist seine Entscheidung doch zuallererst subjektiv begründet, ist sie für ihn selbst immer plausibel (subjektiv funktional), ist sie nicht einfach von außen kritisierbar und ergibt sie sich primär nicht aus irgendwelchen objektiven Bedingungen. Wie jedoch andererseits die objektiven Bedingungen die Möglichkeiten der individuellen Entscheidung und des Denkens vorstrukturieren, wie sie das geistige Heraustreten aus der gegebenen Situation erschweren, will der historische Teil dieses Textes später zeigen.
Voraussetzung für ein Handeln in Richtung der Überwindung der ihn einschränkenden Verhältnisse ist das "begreifende Denken" (Holzkamp 1985:398), das Erkennen der tatsächlichen Zusammenhänge zwischen menschlicher Gesellschaft und der individuellen Existenz in dieser Gesellschaft, das Denken über den oberflächlichen, äußeren (An-)Schein hinaus.
Bezüglich der oben aufgeworfenen Fragestellung, warum heute viele Menschen angesichts der sie unmittelbar betreffenden Probleme lieber "…nicht drüber nachdenken…" könnte jetzt also die Fragestellung auch anders formuliert werden: Was hindert diese Menschen daran, "begreifend" zu denken? Was hindert sie daran, zu erkennen, dass Forderungen von Politikern, länger zu arbeiten bis zur Rente, das Problem der Arbeitslosigkeit nur verschlimmern und das Rentenproblem trotzdem nicht lösen? Was hindert sie daran, Politiker für verrückt zu erklären, die steif und fest behaupten, dass Investitionen Arbeitsplätze schaffen ohne die in jeder Buchhaltung übliche Gegenrechnung zu machen, wie viele Arbeitsplätze durch dieselbe Investition, nur irgendwo anders, verloren gehen?