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Warum Europa?
In der Phase Ausgangs des Mittelalters und zu Beginn der Renaissance tritt ein weiterer Umstand in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ein. Nach dem mit der entwickelten Warenproduktion vollzogenen Funktionswechsel bezüglich des Zwecks menschlicher Arbeit vollzieht sich nun ein Dominanzwechsel, der vierte Schritt im Sinne des methodischen Fünfschritts nach Holzkamp. Das bedeutet, dass sich nunmehr nicht nur für relativ wenige "freie Bürger", sondern für die übergroße Mehrheit der Menschen die Lebensweise zunehmend über den Markt bestimmt.
Michael Mitterauer beschreibt in seinem Buch "Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderweges" sehr ausführlich die komplexe Verflechtung ökonomischer, politischer, technischer, militärorganisatorischer, kirchlicher und religiöser Aspekte der Entwicklung in Mitteleuropa, die gerade hier zu dem Dominanzwechsel geführt haben. Erwähnt sei hier u. a. der Anbau von Roggen und Hafer als Grundlage der frühen europäischen Landwirtschaft, der sich aus einem Zusammentreffen von geeigneten klimatischen Bedingungen mit den Möglichkeiten der Landgewinnung durch Rodung und der Einführung der Dreifelderwirtschaft ergab. Dabei wurde Roggen als Winter- und Hafer als Sommergetreide eingesetzt. Im dritten Jahr lag das Feld brach und wurde als Viehweide genutzt und dabei gleichzeitig auch mit gedüngt. Mitterauer bezeichnet diesen Prozess als die "Vergetreidung" Europas.
Während in der spätantiken Landwirtschaft von Sklaven bewirtschafteter Großgrundbesitz dominierte, wobei die Sklaven beim Herrenhof angesiedelt waren, setzte sich im fränkischen Reich eine andere Struktur durch. Die Vergetreidung führt zur Schaffung abhängiger Bauernstellen in zwei Formen: Unfreie mit eigenem Haus und persönlich freie, aber schollengebundene und dienstpflichtige Kolonen, die im Unterschied zu den römischen Kolonen Pflugdienste auf dem Herrenland leisten müssen. Das führt zu einem rationelleren Einsatz der Arbeitskräfte, der Grundherr spart Unterhaltskosten für diese Arbeitskräfte, er braucht nicht eine Vielzahl an Zugtieren zu halten und durch Rodung steht Land für die Kolonen zur Verfügung. Klöster fungieren als agrarische Innovationszentren. Die zweigeteilte Grundherrschaft ermöglicht einen zentralen Betrieb von Wassermühlen, Walk- und Sägemühlen, eine zentrale Rinderherdenhaltung etc.
Die Reichs- und Landstände des Mittelalters sind ein Spezifikum des historischen Sozialraums Europas und resultieren aus dem stark dezentralen Charakter der Herrschaftsordnung. Die Kaiser im frühen Mittelalter zogen mitsamt ihrem Hofstaat von Kaiserpfalz zu Kaiserpfalz und nahmen von dort aus jeweils ihre Herrscheraufgaben wahr. Der Grund war vor allem, dass diese Art der Herrschaft mit weniger Ressourcen auskam. Wenn an einer Stelle alle Vorräte verzehrt waren, zog man weiter.
Diese dezentrale Art der Herrschaft hat vielfältige Auswirkungen bis hin zur Entwicklung der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung. Die Spezifik des europäischen Feudalismus besteht im Ausbau vieler lokaler und regionaler Herrschaftszentren. Dies sind vor allem die Kaiserpfalzen und sich daraus entwickelnde befestigte Burgen einschließlich der ihnen zugehörigen Siedlungen, aus denen sich später die Städte entwickelten. Typisch für diese Städte ist eine Ständeverfassung: Der Fürst musste das Mitspracherecht der ihm als eigenständige Körperschaft gegenüberstehenden Stände unbedingt respektieren, er verfügte über keine Alleinherrschaft.
Ausgehend von der Etablierung des Christentums als Staatsreligion durch Kaiser Konstantin im Römischen Reich versuchte die Papstkirche, diese Rolle weiter zu belegen. Sie förderte deshalb einerseits das Ständewesen um die Fürstenmacht zu begrenzen und sie kontrollieren zu können, trug andererseits aber auch zur sozialen Disziplinierung und Individualisierung der Menschen bei. Sie beförderte die Gründung von Universitäten und säkularisierter Wissenschaft, führte die lateinische Sprache und Schrift überall in Europa ein und unterstützte im eigenen Interesse die schnelle Verbreitung solch revolutionärer Techniken wie den Buchdruck mit beweglichen Lettern, der eine bis dahin nicht vorstellbare Massenkommunikation ermöglichte. Die Verfolgung eigener Machtinteressen, beispielsweise vermittels der Kreuzzüge, führte zur Entwicklung beeindruckender logistischer und militärischer Leistungen. Auch im Bereich des Bank- und Finanzwesens leistete die Papstkirche Großes, schließlich mussten ja viele gewaltige Bauleistungen, deren Größe uns heute noch beeindruckt, erbracht und letztlich dann auch bezahlt werden.
In diesem Umfeld vollzog sich allmählich eine neue Entwicklung. Die Stände in den Städten gewannen gegenüber den Fürsten eine immer größere Selbständigkeit. Zunehmend trotzten sie den Fürsten Rechte in Bezug auf größere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ab. Die Städte erhielten nach und nach das Marktrecht, das Münzrecht, das Recht, teilweise eigene Gerichtsbarkeit wahrzunehmen usw. Die treibende Kraft in den Städten waren dabei vor allem die in Zünften organisierten Bürger der Städte, deren Anzahl ständig wuchs, vorwiegend Handwerker. Aus der Struktur vieler lokaler Zentren ergab sich auch eine Vielfalt sich vollziehender Arbeitsteilungen und Spezialisierungen. So mussten die ein lokales Zentrum umgebenden Dörfer vor allem die Lebensmittel, die landwirtschaftlichen Produkte erzeugen, die für die Versorgung des Zentrums benötigt wurden. Die Handwerker in den Städten versorgten die Menschen mit anderen benötigten Dingen, wie Kleidung, Schuhe, Werkzeuge, Krüge, Geschirr usw.
Das alles geschah auf der Basis des Austausches der Produkte. Da es bereits eine entwickelte Warenproduktion gab, auf deren Basis die freien Bürger Griechenlands und Roms ihren Lebensstil bereits seit etwa tausend Jahren gründeten, begann diese Warenproduktion und der damit verbundene Tausch der Waren auf einem Markt auch für die sich zunehmend emanzipierenden Bürger der Städte zum bestimmenden Lebensstil zu werden. Die Handwerker stellten ihre Produkte also nicht mehr zum Zweck des unmittelbaren Gebrauchs innerhalb ihres lokalen Zentrums her, sondern zum Zweck des Tauschs auf dem regionalen Markt. Die von ihnen hergestellten Produkte wurden also Waren.
Es gab jedoch eine Besonderheit dieser Entwicklung im Unterschied zur entwickelten Warenproduktion der Antike. In der Antike wurde das von den Sklaven erzeugte Mehrprodukt von den entsprechenden Freien "enteignet" und auf dem Markt getauscht. Im mittelalterlichen Europa jedoch gingen die Handwerker dazu über, ihre vollständige Produktion, nicht nur das von ihnen erzeugte Mehrprodukt, als Ware, um Zweck des Tauschs auf dem Markt, herzustellen. Nahezu alle für den eigenen Bedarf erforderlichen Lebensmittel wurden im Gegenzug ebenfalls über den Markt erworben. Sie waren damit auf den Besitz von Geld angewiesen und begannen somit ebenfalls den Lebensstil zu entwickeln, der den Regeln des Marktes entspricht: Es geht darum, über möglichst viel Geld, als universelles Tauschmittel zu verfügen, damit, auch längerfristig im Sinne einer Vorsorge, immer ein Tausch aller zum Leben benötigten Dinge möglich ist.
Der Warentausch und damit der Geldbedarf entwickelten sich so schnell, dass beispielsweise in der Zeit des Spätmittelalters das Münzgeld europaweit knapp zu werden begann. Es war einfach nicht möglich, genügende Mengen Silber zu fördern. Daraus resultierte einerseits die Entwicklung des "Buchgeldes", also die Führung von Girokonten bei Banken, die von den Italienischen Handelsrepubliken ausging. Andererseits wurden enorme Anstrengungen unternommen, um den Silberbergbau zu effektivieren und auszuweiten. In diesem Zusammenhang wurden wichtige technische Neuerungen, beispielsweise bei der Grubenentwässerung eingeführt.
Auch bei den Handwerkern setzen neue Entwicklungen ein. Da, wo es mit den Tauschgeschäften auf dem Markt gut läuft, wird ein Handwerker bestrebt sein, mehr zu produzieren und zu vermarkten. Da, wo es schlecht läuft, wird das Handwerk seinen Herrn nicht ernähren können über den Tausch am Markt. Der eine wird eine Hilfe suchen, der andere wird helfen und damit seinen Lebensunterhalt sichern wollen. Er wird sich bei einem anderen Handwerker verdingen, der diesem sicher einen Lohn geben wird, damit er leben kann - aber auch nicht mehr. Das von diesem erzeugte Mehrprodukt wird jener jedoch, einfach auf Grund seiner Interessenlage und weil es für dessen Lebensunterhalt ja auch nicht erforderlich ist, für sich behalten, sich also selber aneignen.
Beginn des Frühkapitalismus
Damit setzt ein qualitativ neuer Prozess ein: Einerseits beginnt eine Differenzierung. Wer Geld hat, kann andere Menschen für sich arbeiten lassen und sich das von diesen erzeugte Mehrprodukt aneignen, indem er diesen Menschen das für deren Lebensunterhalt erforderliche Geld gibt und die von ihnen erzeugten Produkte (einschließlich des erzeugten Mehrproduktes) selber auf dem Markt verkauft. Andererseits sind die Menschen, deren Mehrprodukt jetzt zum Zweck des Tausches auf dem Markt enteignet wird, selber gezwungen, ihre eigene Reproduktion vermittels des Marktes zu realisieren.
Die früheren Sklaven lebten in eigenen, dem Sklavenhalter zugeordneten, familienähnlichen Gemeinschaften und organisierten ihr Leben dort gemeinschaftlich. Das von ihnen erzeugte Mehrprodukt eignete sich der Sklavenhalter an und organisierte damit einen Teil seines Lebens vermittels des Tausches auf dem Markt. Nun erhalten die Menschen, deren Mehrprodukt von anderen vereinnahmt wird für ihr eigenes (Über-)leben nicht mehr die benötigten (Lebens-)mittel, sondern Geld, welches der Meister ja (genug) hat. Die Gemeinschaft der Abhängigen, wie früher, existiert nicht mehr. Jeder kann sich die von ihm benötigten Lebensmittel ja auf dem Markt kaufen. Die Menschen werden dadurch viel stärker vereinzelt, die Gemeinschaft im früheren Sinne der Einheit von Produktion und Konsumtion, existiert nicht mehr. Gleichzeitig wirkt diese Vereinzelung auch wieder in Form positive Rückkopplung auf die weitere Entwicklung der Gesellschaft zurück: Benötigt werden flexible, unabhängige, heute hier und morgen da einsetzbare Menschen, weil natürlich das "Marktglück" nicht immer gleich ist, weil ständig neue Entwicklungen sich vollziehen, die neues "Marktglück" verheißen… Wir sind im frühen Kapitalismus angekommen. Es gab, im Sinne des methodischen Fünfschritts von Holzkamp einen Dominanzwechsel. Das, was vorher für eine Gruppe von Menschen die bestimmende Lebensweise war, der Tausch der benötigten Lebensmittel vermittels des Marktes, wird nun für die Mehrheit der Menschen bestimmend, wird zur vorwiegenden Lebensweise.
Diese Entwicklung wird im Weiteren von Prozessen begleitet, die eine positive, verstärkende Rückkopplung ausüben. Ein solcher Prozess ist die Entwicklung der Bevölkerungszahl. Diese wächst in Mitteleuropa ab etwa dem 17./18. Jahrhundert beständig. Gründe dafür liegen vor allem in der Entwicklung der Medizin sowie in der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, die zu einer längeren Lebenserwartung führten. Pest- oder Choleraepidemien, die im Mittelalter die Bevölkerungszahl in kurzer Zeit halbierten traten beispielsweise nicht mehr auf. Auch Hungersnöte mit ähnlich gravierenden Auswirkungen gab es in dieser Zeit nicht. Gleichzeitig wurde die Landwirtschaft durch den Übergang von der Dreifelderwirtschaft zur Fruchtfolgewirtschaft effektiviert, wodurch mehr Menschen versorgt werden konnten.
Viele kleine Bauernhöfe mussten im Zuge dieser Entwicklung, sowie infolge gewaltsamer, politisch vorangetriebener Enteignung, die auch als "Bauernlegen" bekannt ist, ihre Existenz aufgeben. In der Summe wuchs also die Anzahl der Menschen schnell an, die, nicht an familiäre Wirtschaftsstrukturen gebunden, ihren Lebensunterhalt anders gestalten mussten. Diese Menschen standen in steigender Zahl als Arbeitskräfte "frei" zur Verfügung und verdingten sich als "doppelt freie" (Marx) Lohnarbeiter - frei von Eigentum, von Bindungen an Grund und Boden und frei in ihrer Entscheidung, ihre Arbeitskraft zu verkaufen an wen sie wollen. Die einzig mögliche Art für diese Menschen, ihr Leben zu gestalten, war ihre Arbeitskraft zu "verkaufen".
Ein weiterer begleitender Prozess, der die frühkapitalistische Entwicklung verstärkte, vollzog sich im Bereich der Religion. Mit der Reformation wurden die bis dahin in Mitteleuropa vorherrschenden Glaubensgrundsätze der römischen Kirche in weiten Teilen abgelöst durch die protestantische Lehre sowie deren Spielarten. Innerhalb der katholischen Lehre gilt der Grundsatz, dass jeder Mensch die Gnade Gottes erreichen kann, wenn er ein entsprechendes Leben führt: Regelmäßiges Beten zu Gott und Teilnahme an den entsprechenden sakralen Handlungen sowie ein Leben, welches sich insbesondere nicht am Streben nach irdischem Reichtum orientiert. Die Lehre betont also den freien Willen des Einzelnen, sein Leben entsprechend zu gestalten, um die Gnade Gottes zu erreichen. Im Sinne dieser Lehre waren Lohnarbeit und Handelstätigkeit eher notwendiges Übel als anzustrebender Lebensinhalt.
Mit Luther wurde der weltliche Beruf in die Nähe einer göttlichen Berufung gerückt. Er bekämpfte die von ihm als bigott und formal empfundenen Rituale der katholischen Kirche und propagierte eine Verinnerlichung des Glaubens. "Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat." [K. Marx, 1976, S. 386]
Auf der Basis des Protestantismus traten im 16. und 17. Jahrhundert verschiedene Sekten in Erscheinung, von denen insbesondere die Calvinisten, eine aus der Schweiz stammende Religionsgemeinschaft, die heute verbreiteten westlichen Prioritäten und Prinzipien im menschlichen Leben prägte.
Ein Kerngedanke der Calvinisten ist die so genannte Prädestinationslehre. Diese geht davon aus, dass die Gnade Gottes nicht durch irdische Handlungen erreicht werden kann, sondern dass es eine Gnadenwahl durch Gott bereits vor der Schöpfung gegeben hat. Nur bestimmte Menschen seien demnach ausgewählt, das Reich Gottes zu betreten. Als Zeichen hierfür sollten weltlicher Erfolg und ein frommes Leben gelten. Da aber niemand wirklich wissen konnte, wer die Gnade Gottes in sich trägt, bemühten sich die Calvinisten um ein möglichst strikt geordnetes Leben.
Sie erachteten Reichtum und ständige (Re-)Investitionen als Zeichen eines gottgefälligen Lebens. Der Reichtum konnte hierdurch für diese Menschen zum Selbstzweck werden, und da die Calvinisten darüber hinaus ein extrem asketisches Leben führten, vermehrten sich vor allem ihre Aktiva und Passiva immer weiter, sie konnten sich, ob von Gott erwählt oder nicht, als wirtschaftlicher Machtfaktor etablieren.
Mit dieser Entwicklung ging auch eine Weiterentwicklung des bereits erwähnten Berufsbegriffes einher, der nun noch mehr als bei Luther eine den Lebenssinn bestimmende Komponente enthielt. Die von den Calvinisten und ähnlichen Gruppierungen geprägte Geisteshaltung maß der Erwerbsarbeit, ob körperlich, geistig oder kaufmännisch, eine wesentliche Funktion im Selbstverständnis des einzelnen Menschen wie auch der gesamten Gesellschaft bei.