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Die Sache mit dem Taktrhythmus
Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich in einem Gespräch mit Uli von ihm auf ein Buch mit dem Titel "Im Takt des Geldes" von E. Bockelmann aufmerksam gemacht. Dort seien interessante Gedanken dargelegt, wie sich unser Denken im Laufe der Zeit geändert und zu dem heute üblichen "modernen" Denken entwickelt hat. Ich kann jedem, der sich mit dieser Frage näher befassen möchte, das Lesen dieses Buches sehr empfehlen. Es ist klar strukturiert und logisch aufgebaut und bietet eine Fülle von Informationen zur Geschichte und Entwicklung der Philosophie und der modernen Naturwissenschaften.
Anhand des heute verbreiteten Rhythmusempfindens der Menschen sowie anhand der Entstehung der "modernen Wissenschaften" schildert Bockelmann, dass unser Gehirn, seit einer geschichtlich etwa zum Ausgang der Renaissance einzuordnenden Zeit, eine uns nicht bewusste Reflexionsleistung vollbringt, die uns genau zu dem heute üblichen Rhythmusempfinden führt. Auch die Entwicklung der modernen Mathematik und der Naturwissenschaften seit Galilei und Descartes mit ihren spezifischen Fragestellungen beruht auf der gleichen, uns nicht bewussten Abstraktionsleistung unseres Gehirns, was u. a. auch von M. Foucault genauer untersucht wurde. In dem Buch wird nun der Frage nachgegangen, ob das eigentlich immer schon so war oder ob es irgendwelche Anhaltspunkte gibt, dass sich diese Leistung unseres Gehirns erst im Laufe der Zeit herausgebildet hat, und, falls ja, welche Ursachen es dafür gegeben haben könnte.
Einige der in dem genannten Buch ausführlich dargestellten Gedankengänge möchte ich im Folgenden in groben Umrissen skizzieren, insbesondere die dabei auftauchenden, zum Teil geradezu provokanten Fragestellungen und Schlussfolgerungen.
In Bezug auf das Rhythmusempfinden eines jeden Menschen stellt Bockelmann u. a. die Aufgabe, es möge doch jeder einmal für sich versuchen zu beschreiben, was Rhythmus von seinem Wesen her eigentlich ist. Ich selber habe über diese Frage, eine Beschreibung des Rhythmus zu geben, eigentlich bis dahin noch nie nachgedacht. Ich habe Rhythmus einfach empfunden, oder auch nicht - ich bedurfte dazu keiner Definition oder Begriffsbestimmung um zu wissen, ob etwas rhythmisch ist oder nicht. Irgendetwas mit dem Empfinden von Zeit muss es wohl zu tun haben, aber was genau, habe ich mir noch nie überlegt und vermag ich deshalb letztlich auch nicht zu sagen.
Bockelmann analysiert, ausgehend von der Kritik auch heute noch weit verbreiteter wissenschaftlicher Ansätze der Definition von Rhythmus, dass unser heutiges Rhythmusempfinden keineswegs schon immer so war und belegt dies mit einer Reihe von Beispielen. Auch heute gibt es Gruppen von Menschen, beispielsweise in Afrika, die ein völlig anderes Rhythmusempfinden haben als wir in Mitteleuropa. Ein interessantes Beispiel dafür, dass wir ein unbewusstes Rhythmusempfinden haben, welches uns teilweise einen bestimmten Taktrhythmus unbewusst quasi aufzwingt bringt Bockelmann mit einem Textbeispiel - ein Satz ganz gewöhnlicher Prosa:
Golch und Flubis, das sind zwei Gauner aus der Titanei.
[E. Bockelmann, 2004, S. 70ff]
Welche Gedanken mögen hier beim Lesen durch den Kopf gehen? - Ich habe mich zuerst über die beiden für mich sehr fremd klingenden Namen gewundert, mir aber dann bei der "Titanei" gedacht, dass das wohl halt nur so Wortspiele seien. Neckisch eben. Aber ansonsten etwas Auffälliges, Besonderes? - Nein.
Und dann die Überraschung nach der Aufforderung, den Satz nun erneut zu lesen:
Golch und Flubis, das sind zwei
Gauner aus der Titanei.
Durch die Unterbrechung tritt ein Reim hervor. Aber das eigentliche Phänomen: Unwillkürlich wird der Satz nun in einem Taktrhythmus gesprochen. Mehr noch: Nachdem ich diesen Satz einmal so gesehen habe, kann ich ihn kaum noch als "Prosa" sprechen - ich falle unwillkürlich in den Taktrhythmus beim Lesen.
Es werden in dem Buch viele weitere Beispiele für das unwillkürliche Taktempfinden unseres Gehirns, nicht nur bei Versen, sondern auch in der Musik angeführt. Dieses Taktempfinden bringt die Menschen dazu "… in einem Reflex je zwei Elemente nach einem rein zweiwertigen Verhältnis miteinander zu verbinden und gegeneinander zu unterscheiden." [E. Bockelmann, 2004, S. 157]
Es werden also beispielsweise jeweils zwei absolut gleiche Schläge einer Folge von Metronomschlägen dadurch miteinander in Verbindung gebracht, dass unser Gehirn diese jeweils als unterschiedlich deutet und dann paarweise zusammenordnet.
Wir empfinden also nicht ein gleichmäßiges tok tok tok tok …, sondern ein wechselnd betontes tok - tak tok - tak, obwohl Messinstrumente keinen Unterschied zwischen den einzelnen Schlägen feststellen können. Diese rhythmischen Empfindungen sind also eine rein synthetische Leistung unseres Gehirns, die reflexartig, für uns unbewusst erbracht wird. Diese Herangehensweise, zwei Dinge miteinander zu verbinden, indem sie voneinander unterschieden werden, findet sich in ähnlicher Form auch an anderer Stelle.
Beispielsweise in der Mathematik bei der Infinitesimalrechnung. Hier wird völlig abstrakt ein Wert Eins definiert als endlicher Abstand zu einem Wert Null (Zahlenstrahl), der aber unendlich viele Zwischenwerte haben kann (Reelle Zahlen). Dazu wurde ein bis dahin gar nicht erforderliches Modell - das nach Descartes benannte kartesische Koordinatensystem in der Mathematik eingeführt. Auch bei der Begründung der klassischen Philosophie wird ein ähnliches Denkmodell zugrunde gelegt.
Im weiteren Verlauf der Argumentation geht Bockelmann detailliert der Fragestellung nach, ob diese Art des Denkens und des Rhythmusempfindens schon immer so praktiziert wurde oder ob sie sich im Verlaufe der Entwicklung der menschlichen Kultur erst ausgeprägt hat.
Besondere Situation am Ende der Renaissance
Tatsächlich ist sowohl im Bereich der Musik als auch in der Versdichtung festzustellen, dass es erst etwa zur Zeit der Renaissance zur Ausprägung des Taktrhythmus kam, wie er heute üblich ist. Bockelmann grenzt diese Zeit sogar ein auf einen Zeitraum etwa um das Jahr 1620, wo sich innerhalb weniger Jahre die Art des Komponierens und des Spielens von Musik grundlegend wandelte. Auch die Begründung der modernen Wissenschaften und der klassischen Philosophie erfolgt in dieser Zeit. Es werden zu diesem Zeitpunkt völlig neue Fragestellungen diskutiert, die in der bis dahin bekannten Geschichte der Menschheit noch nie gestellt wurden.
Im Folgenden versucht Bockelmann zu ergründen, welche Dinge und Ereignisse sich ebenso entwickelt haben, wie unser heutiges abstraktes Denken und taktrhythmisches Empfinden und setzt dabei einige wichtige Merkmale als Kriterien fest:
- Es werden Elemente (paarweise) zusammengefasst, indem sie als etwas gegensätzliches, sich einander ausschließendes bestimmt werden;
- Dieses neue Denken und Empfinden setzt quasi schlagartig um 1620 in Mitteleuropa ein, hat bis dahin keine Rolle gespielt und verbreitet sich seitdem von Europa aus über die ganze Welt;
- Es erscheint uns heute als absolut selbstverständlich, so selbstverständlich, dass es niemand definieren oder abgrenzen muss, als ob es schon immer so war;
- Und es ist heute so weit verbreitet, so dominant, dass andere Auffassungen de facto ignoriert werden.
- Nach ausführlichen Untersuchungen findet Bockelmann tatsächlich eine überraschende Koinzidenz: Der universelle Gebrauch von Geld für die Reproduktion des menschlichen Lebens.
Nicht, dass es vorher kein Geld gegeben hätte, nein, es ist der universelle Gebrauch des Geldes durch nahezu alle Menschen um ihren wesentlichen Lebensunterhalt zu sichern, der alle oben angeführte Kriterien erfüllt. Dieses Ergebnis erscheint zuerst einmal überraschend. So unglaublich, dass Bockelmann gleich noch weiter geht: Er analysiert nach dieser verblüffenden Feststellung im Detail, wie auch das Entstehen der klassischen Philosophie von Descartes bis Leibnitz genau diese Koinzidenz zeigt. Auch die modernen Wissenschaften, wie sie im Bereich der Mathematik von Descartes und im Bereich der Physik von Galilei begründet wurden, die spezifischen Fragestellungen dieser Wissenschaften haben, durch Bockelmann ausführlich dargestellt, genau diese Ursache: Den universellen Gebrauch von Geld zur Gestaltung des Lebens der übergroßen Mehrheit der Menschen, so wie es für uns heute selbstverständlich ist. Genau dieser universelle Gebrauch von Geld begann sich in dieser Zeit, etwa um 1600 auszuprägen.
Offensichtlich tritt hier ein Qualitätssprung in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in Erscheinung, ein "Augenblick", in dem eine (bereits lange andauernde) quantitative Entwicklung umschlägt in eine neue Qualität. Nun wäre es sicher zu simpel und der Komplexität der Entwicklung nicht angemessen, einfach zu sagen: Dialektik, Qualitätssprung und fertig, der Rest erklärt sich quasi von selbst. Hier bedarf es einer genaueren Betrachtung. Es reicht m. E. dabei auch nicht aus, nur das Phänomen des Qualitätssprunges zu betrachten - die Frage muss grundsätzlicher gestellt werden: Wodurch ist die Entwicklung der Menschheit bis heute charakterisiert und wie ist diese verlaufen?