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Mehrfachbarrieren
Der sichere Einschluss des radioaktiven lnventars einer kerntechnischen Anlage erfolgt nach dem Mehrfachbarrierenprinzip, d. h. zur Freisetzung radioaktiver Stoffe müssen diese mehrere verschiedene, hintereinander geschaltete Barrieren passieren. Barrieren eines Kernreaktors sind z. B.:
- Rückhaltung von Spaltprodukten im Kernbrennstoff selbst,
- Einschluss des Kernbrennstoffes in Hüllrohren,
- Einschluss der Brennelemente im Reaktordruckbehälter und Primärkühlkreislauf,
- gasdichter Sicherheitsbehälter.
Eine Prinzipdarstellung der Sicherheitsbarrieren eine KKW ist nachstehend abgebildet.
Der Sicherheitsbehälter ist eine der Barrieren im Kernkraftwerk, die das Entweichen radioaktiver Stoffe in die Umgebung erschweren. Er umschließt den nuklearen Teil der Anlage und ist so ausgelegt, dass er bei schweren Störungen den austretenden Dampf aufnimmt, ohne zu versagen. Der Sicherheitsbehälter eines Druckwasserreaktors ist z. B. eine stählerne Kugel mit ca. 50 m Durchmesser und 30 mm Wanddicke. Dazu gehören schnell schließende Armaturen der herausführenden Rohrleitungen sowie Personen- und Materialschleusen.
Den Behälter umgibt eine bis zu 2 m dicke Stahlbetonkuppel zum Schutz gegen äußere Einwirkungen. Die Innenwand der Kuppel ist gasdicht mit einer Stahlhaut ausgekleidet. In dem Ringraum zwischen Sicherheitsbehälter und Stahlhaut herrscht Unterdruck. Die beim Normalbetrieb aus dem Sicherheitsbehälter austretenden radioaktiven Stoffe gelangen in die Unterdruckzone und über Filter zum Abluftkamin. Im Störfall wird die Luft aus der Unterdruckzone in den Sicherheitsbehälter zurückgepumpt.
Kerntechnische Anlagen müssen so ausgelegt sein, dass die Schutzziele des Atomgesetzes eingehalten werden. Dies gilt nicht nur für den Normalbetrieb und die sicherheitstechnisch unbedeutenden Betriebsstörungen, sondern auch für Stör- und Schadensfälle. So gibt es viele Maßnahmen und Einrichtungen, die sicherstellen, dass auch im Fall einer oder mehrerer Störungen oder fehlerhafter Bedienungen der Anlage durch das Personal keine Schäden innerhalb oder außerhalb der Anlage auftreten. Auch müssen alle diese Dinge nach gesetzlichen Vorgaben protokolliert und gemeldet werden und werden von staatlichen Institutionen überwacht. Man kann mit Sicherheit auch den Betreibern keine Böswilligkeit unterstellen, wenn diese behaupten und belegen, dass die kerntechnischen Anlagen nach menschlichem Ermessen sicher sind. Genauso kann den Betreibern mit gutem Recht unterstellt werden, dass sie sich ehrlich bemühen, ein Maximum an Sicherheit zu erreichen.
"Restrisiko"
Jedoch bleibt eines unbestritten: Bei allen Sicherheitsbetrachtungen handelt es sich immer um Wahrscheinlichkeitsaussagen. Deshalb sprechen auch Fachleute von einem so genannten "Restrisiko". Unter dem "Restrisiko" einer Technik, zum Beispiel der Kerntechnik, versteht man die Spanne zwischen der real erreichten Sicherheit (einem berechneten Wahrscheinlichkeitswert für den Eintritt eines Ereignisses) und der angestrebten, aber nicht erreichbaren garantierten Sicherheit (Wahrscheinlichkeitswert gleich 1).
In der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke wird nach den letzten Erkenntnissen die Wahrscheinlichkeit für einen Kernschmelzunfall in einem Kernkraftwerk in einer Größenordnung von 3 x 10-5 angegeben, das heißt, dass ein Kernschmelzunfall statistisch gesehen dreimal innerhalb von hunderttausend Betriebsjahren vorkommt.
Das erscheint verschwindend gering. Ist es auch. Aber: Es ist eben eine Wahrscheinlichkeitsaussage - was bedeutet, dass bereits morgen ein solches Ereignis auftreten könnte, ohne dass damit die Aussage falsch wäre. Und: Diese Größenordnung gilt für Kernschmelzunfälle, es ist anzunehmen, dass Unfälle, die nicht diese Schwere haben, auch häufiger auftreten. Und alle Versicherungen dieser Welt können einen eingetreten Schaden nicht rückgängig machen.
Man kann, wenn man schon mit Wahrscheinlichkeiten operiert, auch eine andere Rechnung durchführen: Im Sommer 2003 waren weltweit 437 Kernkraftwerke in Betrieb. Unterstellt man allen das gleiche Sicherheitsniveau, wie es in der oben erwähnten Sicherheitsstudie angegeben wird, so tritt statistisch gesehen alle 76 Jahre ein Kernschmelzunfall, vergleichbar dem von Tschernobyl, ein. Unterstellt man zusätzlich noch die Wahrheit der Aussage, dass die "Deutsche Kernkraftwerkstechnik" die sicherste weltweit ist, bedeutet das, dass andere Kernkraftwerkstechnik nicht so sicher ist. Damit liegt die angegebene Eintrittshäufigkeit bei weniger als 76 Jahren.
Sicher, diese Betrachtung ist eine rein theoretische. Manchem mag dies eine Diskussion um des Kaisers Bart sein. Dem würde ich nicht widersprechen. Tatsache ist jedoch, dass ein nicht kalkulierbares statistisches Risiko bleibt. Dieses Risiko führt, wenn ein Unfall wie beispielsweise der von Tschernobyl eintritt, zu solchen Folgen, die keine Versicherung oder Staatshaftung regulieren kann.
An dieser Stelle stellt sich für mich das erste mal ernsthaft die Frage, ob man, so es denn vernünftige Alternativen gibt, nicht doch besser auf Kernkraftwerkstechnologie verzichten sollte.
Reststoffe und deren Wiederaufarbeitung
Ein weiterer Aspekt soll im Folgenden noch betrachtet werden: Was ist mit den Reststoffen, die während und nach dem Betrieb eines Kernkraftwerkes anfallen? Es handelt sich bei diesen Betrachtungen um ein außerordentlich komplexes Thema, welches darüber hinaus oft auch kontrovers diskutiert wird. Es ist deshalb an dieser Stelle auch nicht möglich, alle Aspekte dieses Problemkreises zu beleuchten.
Zuerst soll einmal der Kernbrennstoff selbst betrachtet werden. Einen Überblick über die Veränderungen im Kernbrennstoff liefert die nachstehende Abbildung.
Der Kernbrennstoff hat nach seiner Nutzung im Reaktor etwa folgende Zusammensetzung: 96% Uran, 3% Spaltprodukte (Abfall), 1% Plutonium und geringe Anteile von Transuran-Elementen. Das Zurückgewonnene Uran und das Plutonium können nach entsprechender chemischer Bearbeitung wieder als Brennstoff in einem Kernkraftwerk eingesetzt werden.
Die in einer Wiederaufarbeitungsanlage mit einem Jahresdurchsatz von 350 t jährlich zurückgewinnbaren Kernbrennstoffe entsprechen bei Einsatz in den heute üblichen Leichtwasserreaktoren der Energiemenge von ca. 10 Mio. t Steinkohle. Durch den Wiederaufarbeitungsprozess wird der hochaktive Abfall (Spaltprodukte) abgetrennt und durch Verglasung in eine Form gebracht, die eine sichere Endlagerung gewährleisten soll.
Das Schema der Wiederaufbereitung verbrauchter Kernbrennstäbe ist in der nachstehenden Abbildung dargestellt:
Im gesamten Kernbrennstoffkreislauf, insbesondere im Kernkraftwerk und bei der Wiederaufarbeitung, fallen feste, flüssige oder gasförmige radioaktive Abfälle an. Sie müssen letztlich so gelagert werden, dass sie keine Gefahr für die Biosphäre darstellen.
Dieser Kernbrennstoffkreislauf insgesamt ist der nachstehenden Abbildung dargestellt:
Man unterscheidet dabei zwischen schwach-, mittel- und hochaktiven Abfällen. Ein anderes, heute üblicherweise verwendetes Unterscheidungskriterium ist die durch den radioaktiven Zerfall bedingte Wärmeentwicklung und die daraus resultierende Einteilung in wärmeentwickelnde und nicht-wärmeentwickelnde Abfälle. Für hochaktive, wärmeentwickelnde Abfälle ist die Verglasung eine geeignete Methode zur Überführung in ein endlagerfähiges Produkt. Das betrifft vor allem die Endprodukte der Wiederaufarbeitung der Kernbrennstäbe.
Neben dem abgebrannten Kernbrennstoff fallen in den Kernkraftwerken weitere radioaktive Abfälle an. Sie entstehen durch Reinigungsmaßnahmen des Kühlkreislaufes, des aus Kontrollbereichen abzugebenden Wassers und der Luft sowie durch Reinigung der Anlage. Zur Reinigung des Kühlkreislaufes werden z. B. bei Druckwasserreaktoren Kugelharze und Filterkerzeneinsätze verwendet. Zur Reinigung des abzugebenden Wassers werden Eindampfanlagen, Zentrifugen und Ionenaustauscherfilter eingesetzt. Zur Luftreinigung dienen Filter. Die Rohabfälle werden entweder direkt im Kernkraftwerk oder in einer externen Abfallkonditionierungsanlage behandelt. Die Verarbeitungsverfahren wie Trocknen, Pressen oder Verbrennen bringen eine starke Volumenverminderung. Das Volumen des jährlichen Anfalls von radioaktiven Abfällen durch den Betrieb eines 1300-MW(el)-Kernkraftwerkes beträgt:
Abfallart | Druckwasserreaktor [m³] | Siedewasserreaktor [m³] |
Ionentauscherharze | 2 | 8 |
Verdampferkonzentrat | 25 | 35 |
Metallteile, Isoliermaterial | 60 | 90 |
Filterhilfsmittel, Schlämme | - | 90 |
Papier, Textilien, Kunststoffe | 190 | 300 |
Die Erfassung des Bestandes an radioaktiven Abfällen wird regelmäßig durch das Bundesamt für Strahlenschutz vorgenommen. Die konditionierte Abfallmenge mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung betrug Ende 1999 ca. 63 700 m³ und der Bestand an unverarbeiteten Reststoffen mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung 34 600 m³. Davon entfallen 52 % bzw. 33 % auf Abfälle, die nicht von der Energiewirtschaft stammen. Gemäß der aktuellen Prognose wird das zu erwartende Abfallgebindevolumen bis zum Jahr 2030 auf ca. 264 000 m³ geschätzt. Davon entfallen etwa 18 % auf Abfälle, die nicht von der Energiewirtschaft stammen.
Endlagerung von Abfällen
Das eigentliche Problem ist die erforderliche lange Lagerdauer des Abfalls. Wenn man den Begriff "Entsorgung" wörtlich nimmt, so bedeutet er, dass man sich keine Sorgen machen muss. Genau diese Aussage ist aber fragwürdig, wenn man für Lagerdauer Zeiträume ansetzen muss, die für unsere Nachkommen sehr wohl voller Sorgen sein können. Zur Dauer der Endlagerung gibt es Seitens der Energiewirtschaft kaum quantitative Angaben.
Um hier überhaupt eine Aussage treffen zu können, wie lange die hochradioaktiven Abfälle gelagert werden müssen, ist vielleicht ein Vergleich mit natürlich vorkommenden radioaktiven Stoffen denkbar, beispielsweise mit natürlich vorkommendem Uran-Erz. Die folgende Übersicht ist der Studie 3222 des Kernforschungszentrums Karlsruhe entnommen. Sie gibt die relative Radiotoxizität (Strahlungsgiftigkeit) hochradioaktiver Abfälle im Vergleich zu Uranerz sowie die sie verursachenden Inhaltsstoffe in Abhängigkeit von der Lagerdauer an:
Lagerzeit (Jahre) | Radiotoxizität im Vergleich zu Uranerz | giftigste Stoffe |
25 | 6.800.000 | Cäsium, Strontium, Americium, Plutonium, Curium |
35 | 5.900.000 | |
100 | 4.700.000 | Americium, Plutonium, Curium |
200 | 4.600.000 | |
10000 | 120.000 | Plutonium, Neptunium, Americium |
11000 | 120.000 |
Nun mag ja die relative Angabe diskussionsfähig sein, aber es handelt sich hier vermutlich um Lagerdauern, für die es keine technischen Erfahrungen gibt. Das ist etwa der Zeitraum, den die ägyptischen Pyramiden bestehen. Was wissen wir heute von der Konstruktion und den technischen Parametern der Pyramiden, die damals gwiss auch "für die Ewigkeit" dokumentiert und uns übermittelt wurden? Dabei sind aber die Pyramiden für uns nicht irgendwie gefährlich....
In jüngster Zeit ist ein Begriff zur Lösung des Endlagerproblems häufig verwendet worden: Transmutation. Gemeint ist damit, dass in speziellen Reaktoren die hochradioaktiven Abfälle umgewandelt werden in solche Stoffe, die eine deutlich geringere Halbwertszeit haben und in der Größenordnung von einigen 10 bis 100 Jahren keine Gefahr mehr darstellen. Die Forschungen dazu laufen bereits geraume Zeit. Jedoch ist bisher noch kein solcher Reaktor in Betrieb gegangen. Auch sind weder die energetische, noch die ökonomische Rentabilität eines solchen Reaktors geklärt.
Will man ehrlich sein, so muss das Endlagerproblem als heute nicht sicher geklärt eingestuft werden. Sicher gibt es Aussagen auf der Basis von exakten Untersuchungen, wie es sich entwickeln könnte mit der Endlagerung. Aber auch hier haben wir es mit Wahrscheinlichkeitsaussagen zu tun. Leider mit solchen, die nicht nur uns, sondern vor allem unsere Nachkommen betreffen. Und das finde ich umso verwerflicher, denn unsere Nachfahren haben keine Möglichkeit, den Müll abzulehnen. Auch hier bleibt nur eine Schlussfolgerung: Wenn man in irgendeiner Form auf Kernenergie verzichten kann, sollte man es tun.
Es bleibt also die Frage, ob wir die Kernenergie zwingend brauchen oder ob es denn, bei gleicher Lebensqualität, vielleicht auch ohne sie gehen könnte.
Die Abbildungen stammen aus Kernenergie Basiswissen von Martin Volkmer, Informationskreis Kernenergie, 2003