Mitten im Polizei- und Menschentumult eines Fußballsamstags holten wir unseren Gast Hanna Behrend mittags vom Bahnhof ab. Dadurch hatten wir schon einige Stunden vor Beginn der Lesung in den Räumen der Volkshochschule, um die sprühende Lebendigkeit von Hanna erleben und genießen zu dürfen.
Für die Veranstaltung hatte sie aus ihrer über 800-seitigen Biographie „Die Überleberin. Jahrzehnte in Atlantis“ einige Stellen herausgesucht, die uns einen Überblick über ihre „6 Leben“ gaben. Beginnend in Wien 1922, führte sie ihr turbulentes Leben über Frankreich und England in die junge DDR. Auf Nachfrage sagte sie breit lächelnd, dass sie niemals „wegen der Bananen nach Wien zurückkehren würde“.
Obwohl sie, oder vielleicht auch weil sie getrieben war von dem „Wunsch nach einer gerechten und heilen Welt“ (S. 12), wurde sie als politisch nicht zuverlässig genug eingeschätzt, um Professorin werden zu können; deshalb erlebte sie eine „Karriere ohne Status“, lediglich ohne Status, aber immerhin ein befriedigendes Arbeitsleben als Hochschullehrerin (im Bereich anglistischer Literaturwissenschaft, Spezialgebiet Arbeiterliteratur, später auch Feminismus).
Natürlich war die Zeit der Veranstaltung absolut unzureichend, um dieses reiche und lange Leben gut kennen zu lernen. Deshalb freue ich mich auf die Zeit, in der ich das dicke Buch ihrer Autobiographie lesen werde, das ich mir natürlich gekauft habe.
Hoffen wir, dass Hanna Behrend noch lange ihre Lesungen durchführen kann, und durch unsere Aktivitäten und Erfahrungen erlebt, dass Ihre Sehnsüchte, ihr Engagement und ihr Leben für eine bessere Welt aufgehoben sind in den weltweiten Kämpfen gegen Ausbeutung, Entrechtung und für eine neue Wirtschafts- und Lebensweise.
Schon das Abholen vom Bahnhof war ein Abenteuer: Überall stehen Polizeiautos und Polizisten in Blau und Grün und Schwarz mehr oder weniger vermummt und eingepackt in Sicherheitsuniformen, bereit zum Eingreifen. Da war es gar nicht so einfach, noch einen kleinen Parkplatz zwischen dem ganzen Aufgebot zu finden. Zumindest war das Auto sicher bewacht. Tja, was so ein Lokalderby doch alles bewegen kann, aber wir haben Hanna dann doch sicher am Zug empfangen können.
Zwischen Ankunft und Lesung war ja noch etwas Zeit und so nutzten wir diese nicht nur für ganz intensive Gespräche, sondern auch noch für eine klitzekleine Stadtrundfahrt – Hanna wollte gerne den ‚Schwarzen Bären‘ wiedersehen, in dem sie einst habilitierte. Und ihn gibt es immer noch! Jenas Geschichte hat wirklich viele Gesichter gesehen.
Hanna ist nicht nur eine ‚Überleberin‘ sondern auch eine Kämpferin. Angesichts ihrer vielen Lebensjahre, ihrer etwas eingeschränkten Mobilität und Gesundheit könnte sie sich doch zur Ruhe setzen – sie organisiert sich aber ihr Leben immer wieder neu. „Ich brauche immer wieder Ziele“, so erklärt mir Hanna. Und sie hat noch etwas zu sagen, will aufrütteln und Mut machen. Das hat sie auch in ihrer Lesung klar dargestellt. Ihre mit feinem Humor vorgetragenen Kapitelabsätze, immer in die rechte Zeit gerückt, ließen mich einerseits schmunzeln, aber andererseits auch sehr nachdenklich werden und riefen in mir teilweise auch Parallelen der Erinnerungen vergangener Begebenheiten in den Mühlen der Bürokratie hervor. Die Zeit der Lesung war wirklich viel zu kurz und die Diskussion spannend, aber die Sicherheitsalarmanlagen der VHS zwangen uns zum pünktlichen Ende. Wir diskutierten dann in kleinerer Gruppe bei einem Gläschen Wein weiter. Da Hanna erst am Sonntag Abend sich wieder dem Bahn-Abenteuer ‚Mobil mit Handicap‘ hingegeben hat, das auch gleich mit 40min Verspätung begann – doch zur Ehrenrettung muss gesagt werden, dass die angeforderte Mobilitätshilfe sehr gut geklappt hat, hatten wir noch den ganzen Sonntag Zeit für interessante Gespräche etwa über Frauenbewegung und Partnerschaft, wie sieht das Auto aus, dass sich Hanna vorstellt oder und einen Ausflug auf den ‚Landgrafen‘ hoch über Jena mit einem herrlichen Blick über die Stadt und das Saaletal.
Begegnungen mit Menschen wie Hanna sind für mich immer wieder sehr erlebensintensiv und Beispiel gebend. Fragen, die mich bewegen sind etwa: Was ist der Motor, der sie immer wieder aufstehen lässt? Aus welcher Quelle kommt die Kraft fürs Weitermachen? Ist es der Glaube an sich oder der Wille, Berge zu versetzen? Was treibt immer weiter, die Welt zu verstehen und nicht nur zu interpretieren? Was motiviert immer wieder für die intensive Suche nach Neuem im Alten?
Die Welt verbessern, menschlichere Zustände herbeiführen, sich mit
Aussicht auf Erfolg engagieren, aber wie? Fragen, die Hanna immer bewegten, für die sie Antworten suchte und auch uns in spannende Diskussionen verwickelte. Es sind Fragen, an denen auch wir immer weiter arbeiten werden, und vielleicht finden wir auch die eine oder andere Antwort, die wir leider nun nicht mehr mit Hanna teilen oder besprechen können. Hanna ist nun im November 2010 den allerletzten Weg des Lebens gegangen. Wir werden sie nicht nur als Überleberin, sondern auch als unermüdliche Kämpferin und Freundin in unserem Herzen und Andenken bewahren.