Sokratisches Gespräch
Eine Zukunftswerkstatt geht davon aus, dass Menschen heute selber in der Lage sind, ihre Probleme zu benennen, Lösungen zu erarbeiten und sich für deren Realisierung zu engagieren und stellt genau dafür eine effektive Methode zur Verfügung. Dass andere Menschen genau daran nicht interessiert sind, liegt in der Natur der heutigen Gesellschaft, denn nur so können Machtpositionen gesichert werden.
Genau in die gleiche Richtung zielt die heute weit verbreitete "Berateritis". Für alles Mögliche werden Berater, Fachleute, Experten herangezogen und deren Meinung nahezu blind vertraut. Schließlich müssen die es ja wissen... Viele Menschen machen sich kaum noch die Mühe, Probleme selbst zu hinterfragen, Interessenlagen auszuloten und nach für sie geeigneten Lösungen zu suchen. Vielfach wird einfach nur noch blind geglaubt.
An dieser Stelle setzt die Idee des Sokratischen Gesprächs an.
In einem Sokratischen Gespräch werden solche Fragen untersucht wie
- Was ist ein gutes Leben?
- Wann handle ich gerecht?
- Was unterscheidet "wahr" und "wahrhaftig"?
- Wo liegen die Grenzen unserer Toleranz?
Es sind dies Fragen nach den grundlegenden Überzeugungen und Maßstäben für unser Denken, Fühlen und Handeln.
Das Sokratische Gespräch beruht auf dem Grundsatz vom Selbstvertrauen der Vernunft. Es geht vor allem darum, das Wissen über das jeder Einzelne verfügt ans Licht zu bringen. Bei der Suche nach eigenen Einsichten ist das Bemühen um Wahrheit die treibende Kraft. Das Denken jedes Einzelnen ist notwendig begrenzt, es wird beeinflusst von seinen individuellen Erfahrungen und Gefühlen. Im Sokratischen Gespräch bemüht man sich, die eigenen Gedanken an denen Anderer zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren oder zu modifizieren, also in Gemeinschaft zu denken und zu Aussagen zu kommen, denen Alle zustimmen können.
Am Sokratischen Gespräch teilnehmen bedeutet:
- selbst denken, statt bloß Kenntnisse zu übernehmen
- konkret denken, statt allgemeine Ansichten zu diskutieren
- miteinander denken, statt sich gegenseitig anzugreifen
- nach wahrer Erkenntnis suchen, statt bloß Meinungen auszutauschen
Sokratisch philosophieren heißt, die Grenzen des eigenen Denkens im Gespräch zu erweitern sowie Denken und Handeln miteinander in Einklang zu bringen.
Die sokratische Methode
Die Grundgedanken dieser Gesprächsform gehen auf den griechischen Philosophen Sokrates (ca. 470 - 399 v. Chr.) und Platons Sokratische Dialoge zurück. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde durch den Göttinger Philosoph Leonard Nelson die antike Gesprächsform zum Sokratischen Gruppengespräch ausgearbeitet. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Methode des Sokratischen Gespräches von dessen Schülern, besonders von Gustav Heckmann erneuert und weiterentwickelt.
Im sokratischen Gespräch sollen die Teilnehmer eigene Einsichten zu der jeweiligen Frage erlangen. Gustav Heckmann schrieb dazu:
"Das Ziel ist, dass die Teilnehmer Einsichten gewinnen, und das heißt: sie im eigenen Geist auffinden. Einsicht ist etwas anderes als durch Sinneswahrnehmung vermittelte Kenntnis oder ein Wissen, das mir durch einen anderen vermittelt wird. Jeder kann die Einsicht nur reflektierend im eigenen Geiste finden. Das Gespräch zwischen Partnern, unter denen keiner für den anderen Autorität ist, kann dazu wesentlich helfen."
Immer wieder stellen Teilnehmer fest, dass die Gespräche weiterwirken, dass sie später auch im Alltag kritischer an Gesprächen teilnehmen, genauer zuhören, Phrasen hinterfragen, weniger anfällig geworden sind gegen Dogmen oder bloße Schlagworte. Das Selbstvertrauen wächst durch die Erfahrung, dass wir nicht darauf angewiesen sind, Urteile von Autoritäten zu übernehmen, sondern durch eigenes Denken und Argumentieren selber zu begründeten Urteilen kommen können. So hat das Sokratische Gespräch, selbst wenn es sich nicht unmittelbar mit einem politischen Thema befasst hat, als anti-doktrinäre Gesprächsform eine politische Wirkung im Sinne der Förderung mündiger Bürger. Auch kann das Nachdenken über ethische Fragen - über das jeweils behandelte Thema hinaus - zu einer Orientierungshilfe bei der Auseinandersetzung mit Problemen der Lebensführung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden.
Für die Teilnahme an einem sokratischen Gespräch sind keine philosophischen Vorkenntnisse erforderlich, sondern allein ein "normaler" Verstand und die Bereitschaft, sich auf diese Methode einzulassen.
Voraussetzung für die Teilnahme an einem Sokratischen Gespräch ist, dass jeder Teilnehmer nur seine eigenen Überlegungen auszudrücken versucht und sich nicht auf irgendwelche Autoritäten bezieht. Er soll auch nicht Thesen vertreten, von denen er nicht überzeugt ist. Im sokratischen Gespräch vertraut man darauf, dass jeder Teilnehmer für das, was er vorbringt, Gründe hat. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, dass alle Gesprächsteilnehmer sich gegenseitig ernst nehmen und beanspruchen können, ernst genommen zu werden. Durch den Austausch von Argumenten und Gründen gelingt es allmählich, den Wahrheitskern auch von zunächst gegensätzlich erscheinenden Auffassungen herauszuschälen. Im Sokratischen Gespräch kommt es nicht darauf an, Recht zu behalten: Das gemeinsame Anliegen ist, zu einer besseren Einsicht zu gelangen.
Ablauf eines Sokratischen Gespräches
Ausgehend von der jeweiligen Fragestellung wird in der Regel ein möglichst selbst erlebtes Beispiel zum Thema gesucht und analysiert. Entsprechend geht man bei mathematischen Themen von konkreten Beispielen bzw. Figuren aus. Die wichtigsten Regeln des Sokratischen Gesprächs sind:
- Jeder Teilnehmer sagt nur seine eigenen Überlegungen, die Meinungen von "Autoritäten" gelten nicht als Argument.
- Das Thema wird vom Konkreten ausgehend und allmählich abstrahierend untersucht. In der Regel wird daher zunächst ein konkretes Beispiel aus dem eigenen Erfahrungsbereich (eines) der Teilnehmer untersucht.
- Die wirkliche Verständigung zwischen den Teilnehmern in der Sache hat Priorität vor dem schnelleren finden von "Ergebnissen".
- Es wird Schritt für Schritt vorgegangen unter Beteiligung aller Teilnehmer.
- Zu den im Gesprächsverlauf aufgestellten Behauptungen, Vermutungen und Fragen soll jeweils das Für und Wider begründet und geprüft werden.
- Die Teilnehmer bemühen sich gemeinsam um Urteile, denen alle zustimmen können.
Wenn die Gesprächsgruppe ein Urteil gewonnen hat, dem alle zustimmen können, ist ein Konsens erreicht. Obwohl ein solcher Konsens angestrebt wird, sollte kein Teilnehmer echte Zweifel um eines schnellen Konsenses willen zurückstellen. Jeder Teilnehmer kann einen Konsens wieder in Frage stellen, wenn er begründete Zweifel hat. Dies kann er auch dann, wenn er dem Urteil zu einem früheren Zeitpunkt ausdrücklich zugestimmt hat. Die wichtigen Aussagen bzw. Gedankenschritte werden für alle sichtbar als "roter Faden" schriftlich festgehalten.
Die Gruppe bemüht sich zuerst um eine Verständigung über das gewählte konkrete Beispiel. Dies schließt häufig Klärungen über die Verwendungsweise von Bezeichnungen und begrifflichen Inhalten ein. Wichtig sind die Urteile, die zu dem Beispiel gefällt werden. Sodann werden die Prinzipien, Überzeugungen und Werte freigelegt, die den anfangs gefällten Urteilen zugrunde liegen. Erst dann kann in die Untersuchung eingetreten werden, wieweit die für das Beispiel aufgestellten Behauptungen allgemeingültig sind. Dazu sind weitere Überlegungen und Argumente zu prüfen und ggf. notwendige Abänderungen vorzunehmen.
"Unser" Sokratisches Gespräch
Wir als Mitglieder der Zukunftswerkstatt Jena haben uns Ende Januar in der Jugendherberge in Bad Sulza zu einem Sokratischen Gespräch getroffen. Das Thema, das von uns diskutiert wurde, war die Frage, wo die Grenzen der Toleranz für den Einzelnen liegen. Einige Bilder dieses Wochenendes sind hier zu sehen.
Die Diskussion wird schriftlich festgehalten
Unsere Runde
Einige ausgewählte spontane Reaktionen der abschließenden Auswertung seien hier zitiert:
- Interessant war vor allem die Art und Weise, wie man bei einem Sokratischen Gespräch zu Erkenntnissen kommt, die vorher schon Lebenserfahrung waren (man sollte wohl doch mehr darüber nachdenken)
- Wichtig ist die Diskussionskultur, der Zwang, Schritt für Schritt, begründend, am Konkreten zu bleiben und langsam, im Konsens zum Allgemeineren vorzugehen.
- Wir haben gemerkt wie schwer es ist, Gedanken aufzuschreiben, Ideen, Vorstellungen konkret und verständlich zu formulieren. Wir werden versuchen, das auch anderswo zu nutzen.
- Total interessant war die neue Erfahrung, dass man anhand konkreter Beispiele ein Stückchen verallgemeinern kann.
An dieser Stelle auch noch mal ein großes Dankeschön an Kirsten, die sich für dieses Wochenende als Leiterin zur Verfügung stellte und für uns die Methode des Sokratischen Gespräches erlebbar machte.
Ich wünsche mir, dass viele Menschen dieses Erlebnis einmal haben mögen, nach langem, intensivem Nachdenken und Diskutieren zu neuen, gefestigten Überzeugungen zu kommen.
"Experten", die uns sagen, wo es lang zu gehen hat, und die dabei doch nur den Weg propagieren, der für sie selber nützlich ist, sind dabei nicht nötig.
Weitere Informationen zum Thema Sokratisches Gespräch sind auf den Seiten der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren e. V. (GSP) verfügbar.